Der steinerne Kreis
Lange atmete sie den Geruch von Bodenwachs und den kaum noch wahrnehmbaren Duft von Eau de Javel ein, die hier schwebten, seitdem sie am Tag nach dem Wunder ihre Wohnung von Grund auf gereinigt und aufgeräumt und desinfiziert hatte, um alle Spuren zu beseitigen, die sie an das Leid und die Vernachlässigung der vergangenen zwei Wochen erinnerten. Der Geruch der Sauberkeit tröstete und bestätigte sie in ihrem Entschluss.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und berechnete die Zeitverschiebung gegenüber Thailand: Mittag in Paris, siebzehn Uhr in Ranong. Sie holte ihre Adoptionsakte hervor, dann setzte sie sich in ihrem Zimmer auf den Boden, ans Bett gelehnt. Um ihre Aufregung zu bezwingen, atmete sie tief unten im Bauch, konzentrierte sich auf die Gegend rund um den Nabel – eine klassische Entspannungstechnik, die sie durch Wing-Tsun kennengelernt hatte. Als der Sauerstoff sich in ihrem Blut verteilt hatte und an diesem geheimen Punkt versammelte, als die Ruhe sich in ihr ausbreitete wie eine große, besänftigende Leere, war sie bereit.
Sie hob den Hörer ab und wählte die Nummer des Waisenhauses der Stiftung Boria-Mundi. Nach mehrmaligem, unterbrochenem Läuten meldete sich eine näselnde Stimme. Diane fragte nach Térésa Maxwell. Sie wartete gut zwei Minuten, bis ein »Hallo« ertönte, scharf und abgehackt, wie eine zuknallende Tür. Lauter, als sie wollte, fragte Diane: »Madame Maxwell?«
»Am Apparat. Wer spricht?«
Die Verbindung war übel, der Tonfall der Direktorin noch viel übler.
»Hier ist Diane Thiberge«, begann sie. »Vor etwa einem Monat war ich bei Ihnen im Waisenhaus, genauer gesagt, am 4. September. Ich bin diejenige, die …«
»Die mit dem goldenen Nasenring?«
»Richtig.«
»Was wollen Sie? Haben Sie ein Problem?«
Diane stellte sich das gutmütige Gesicht, den forschenden Blick vor und log ohne zu zögern: »Nein, überhaupt nicht.«
»Wie geht es dem Jungen?«
»Sehr gut.«
»Warum rufen Sie dann an, wollen Sie mir etwas mitteilen?«
»Ja … Das heißt, nicht ganz. Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Aus der Leitung drangen nur Rauschen und ferne Stimmfetzen. Diane fuhr fort: »Als ich bei Ihnen war, sagten Sie, Sie wüssten nicht, woher das Kind kommt.«
»Das ist richtig.«
»Seine Familie kennen Sie nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie nie seine Mutter gesehen?«
»Nein.«
»Und Sie haben keine Ahnung, welcher Volksgruppe er angehört? Oder aus welchem Grund er ausgesetzt wurde?«
Nach jeder Frage erfolgte ein kurzes, feindseliges Schweigen, ehe Térésa Maxwell eine Antwort gab. Die wiederum aus einer Frage bestand: »Wozu wollen Sie das denn wissen?«
»Na ja … Ich bin seine Adoptivmutter. Ich muss es einfach wissen, um meinen Sohn besser zu verstehen.«
»Es gibt also doch ein Problem. Sie verschweigen mir etwas.«
Vor Dianes Augen erschien die kleine Gestalt in ihren Verbänden, an Apparate und Infusionsschläuche angeschlossen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie sagte: »Nein, ich verschweige Ihnen nichts. Ich würde nur gern ein bisschen mehr über meinen kleinen Jungen wissen, und ich dachte …«
Térésa Maxwell seufzte und sagte, nun weniger angriffslustig: »Bei unserem Treffen habe ich Ihnen alles gesagt. Es gibt viele Straßenkinder in Ranong, die ohne Eltern und ohne medizinische Versorgung aufwachsen. Wenn ein Kind in wirklich schlimmer Verfassung ist, nehmen wir es auf und versorgen es. Das ist alles. Lü-Sian war so ein Straßenkind.«
»Was fehlte ihm?«
»Er litt unter Dehydrierung. Und unter Mangelernährung.«
»Wie lange war er denn im Waisenhaus, bevor ich ihn abgeholt habe?«
»Ungefähr zwei Monate.«
»Und in der Zeit haben Sie gar nichts über ihn erfahren?«
»Wir stellen keine Nachforschungen an.«
»Hat er nie Besuch bekommen?«
Die Störungen in der Verbindung setzten verstärkt wieder ein. Diane hatte den Eindruck, als würde ihre Gesprächspartnerin ihr entrissen – und damit auch jede Möglichkeit, mehr zu erfahren. Doch auf einmal drang die Stimme wieder durch das Rauschen: »Nehmen Sie sich in Acht, Diane.«
Sie zuckte zusammen. Térésas Stimme erschien ihr auf einmal viel näher. »Wo … wovor?«, stammelte sie.
»Vor sich selbst«, antwortete die Direktorin. »Hüten Sie sich vor dem Wunsch, mehr herauszufinden, vor der Verlockung, Erkundigungen über Lü-Sian einzuholen. Der Junge ist jetzt Ihr Kind. Woher er kommt, spielt keine Rolle mehr: Seine Herkunft sind Sie. Suchen Sie nicht
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