Der steinerne Kreis
Blick warf.
»Van Kaen war Ostdeutscher, aus Leipzig. Deswegen konnte er sich in Vietnam aufhalten, das damals gegen den Westen hermetisch verschlossen war.«
»Sie meinen, weil er aus einem sozialistischen Land kam, durfte er einreisen?«
»Richtig. Ein DDR-Bürger konnte eher in Hô-Chi-Minh-Stadt seine Zelte aufschlagen, als in Westberlin einkaufen zu gehen.« Wieder blätterte er in seinen Unterlagen. »Momentan gibt es nur einen einzigen grauen Bereich in seiner Laufbahn: zwischen 1969 und 1972. Anscheinend weiß niemand, wo er sich in dieser Zeit aufgehalten hat. In den achtziger Jahren war er jedenfalls in Vietnam, und nach der Maueröffnung ist er nach Deutschland zurückgekehrt und hat sich in Berlin niedergelassen. Es dauerte nicht lang, bis er seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte und in die wissenschaftliche Elite der ehemaligen BRD Eingang gefunden hatte.«
Diane kehrte in die Gegenwart zurück. »In dem Mordfall haben Sie aber noch keine Spur, oder?«
»Jedenfalls kein Motiv. Der Mann erfreute sich allgemeiner Beliebtheit und Anerkennung. Er war nur ein bisschen schrullig.«
»Inwiefern?«
»Er war ein großer Schürzenjäger. Jedes Jahr im Frühling verführte er reihenweise seine Krankenschwestern auf merkwürdigste Art.«
»Nämlich?«
»Singend. Er trug Opernarien vor. Und anscheinend bezirzte er mit seinem Gesang das gesamte weibliche Krankenhauspersonal. Ein echter Casanova. Aber Eifersucht scheint mir als Motiv eher unwahrscheinlich …«
»Was vermuten Sie denn?«
»Eher eine Abrechnung. Westler, die ihre im Osten gebliebenen Familien rächen, irgendwas von der Art … In dem Fall war van Kaen vermutlich aus dem Schneider, denn er lebte in Vietnam. Und nichts deutet darauf hin, dass er irgendwie mit den kommunistischen Machthabern verstrickt war. Trotzdem hake ich hier nach.«
Sie schritten durch das hohe Tor, überquerten die Rue Auguste-Comte und betraten die Gärten der Sternwarte. Dieser Park, eingezwängt zwischen Wohnhäusern, überwölbt von Herbstlaub, schien sich in Schatten und Kühle zusammenzukauern.
»Eigentlich«, fing der Polizist nach einer Weile wieder an, »interessiert mich eine Frage ebenso sehr wie der Mord selbst: Warum ist dieser Mann hergekommen, um Ihren Sohn zu behandeln?«
Diane schauderte. »Sehen Sie etwa einen Zusammenhang zwischen dem Mord und Lucien?«, fragte sie.
»Wie kommen Sie darauf? Sein Erscheinen ist Teil des Rätsels … Und es kann uns helfen, seine Persönlichkeit auszuloten.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Schauen Sie«, sagte Langlois in belehrendem Ton. »Ein angesehener Arzt, eine Berühmtheit in seinem Land, lässt auf einmal alles liegen und stehen, rast zum Flughafen und nimmt die erste Maschine nach Paris – so viel wissen wir nämlich: Wir konnten präzise jede Etappe seiner Reise rekonstruieren. In Roissy angelangt, begibt er sich schnurstracks zum Necker, beschafft sich ein falsches Namensschild, klaut Schlüssel, macht sich noch die Mühe, die Krankenschwestern zu Doktor Daguerre zu beordern, um auf der Intensivstation ungestört zu sein …«
Sie erinnerte sich, wie leer und still der Flur gewesen war: Van Kaen hatte tatsächlich sämtliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen.
»Und das alles wofür?«, fuhr der Leutnant fort. »Um in aller Eile seine geheimnisvolle Technik an Lucien anzuwenden. Da ging es um eine Lebensrettung, Diane. Und diese Rettungsmaßnahme gilt ausschließlich Ihrem kleinen Jungen.«
Diane schwieg. Die Fragen, die Langlois formuliert hatte, stellte sie sich auch selbst. Warum hatte sich dieser Deutsche so sehr für Lucien interessiert? Woher wusste er überhaupt von ihm? Wer hatte ihn von seinem kritischen Zustand benachrichtigt? Hatte er einen Helfer innerhalb der Klinik?
Als hätte er Dianes Gedanken gelesen, setzte Langlois hinzu: »Es kann niemand aus Ihrem Bekanntenkreis sein, der ihn kontaktiert hat, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. Der Polizist warf ihr einen zustimmenden Blick zu, und sie nahm an, dass er in dieser Richtung bereits nachgeforscht hatte. Während er das Tor zum dritten Garten öffnete, sprach er weiter: »Wir vernehmen zur Zeit das Krankenhauspersonal. Die Ärzte, Pfleger, Schwestern. Vielleicht kannte ihn jemand. Persönlich oder wenigstens dem Namen nach. Die deutsche Polizei überprüft unterdessen alle seine Anrufe, sämtliche Nachrichten. Eines steht fest: Er wurde unmittelbar nach Luciens letzter Krise benachrichtigt, als die französischen Ärzte die Hoffnung
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