Der steinerne Kreis
weiter.«
»Aber … warum denn?«
»Es führt nirgendwohin. Das ist eine regelrechte Krankheit bei Adoptiveltern. Früher oder später wollen sie immer alles wissen, fangen an zu fragen, schnüffeln herum. Als wollten sie sich die Zeit aneignen, in der das Kind ihnen nicht gehört hat, von der sie nichts wissen. Aber die Kinder haben alle eine Vergangenheit, und daran können Sie nichts ändern. Das ist ihr dunkler Anteil.«
Diane konnte dem nichts hinzufügen. Ihre Kehle war trocken, und Térésa sprach weiter: »Wissen Sie, was ein Palimpsest ist?«
»Äh … ja … ich glaube schon.«
Térésa erklärte es trotzdem: »Palimpseste sind diese Pergamentstücke aus der Antike, von denen die mittelalterlichen Mönche aus Sparsamkeitsgründen den Text abschabten, um sie danach neu zu beschriften. Diese Schriftstücke tragen also einen neuen Text, doch in der Tiefe des Materials ist immer noch die ursprüngliche Botschaft enthalten. Ganz ähnlich ergeht es einem Adoptivkind. Sie ziehen es auf, bringen ihm eine Menge bei, prägen es durch Ihre Kultur, Ihre Persönlichkeit … Aber unter dieser Schicht befindet sich nach wie vor ein anderes Manuskript. Das Kind wird seine ursprüngliche Herkunft nie ganz ablegen. Das genetische Erbe seiner Eltern, seiner Kultur. Die paar Jahre, die es in seiner Heimat verbracht hat … Mit diesem Geheimnis müssen Sie leben lernen. Respektieren Sie es. Das ist der einzige Weg, um Ihren Sohn wirklich zu lieben.«
In Térésas rauer Stimme schwang ein sanfter Ton mit. Diane stellte sich das Waisenhaus vor. Sie nahm seine Gerüche wahr, die Hitze, die Krankenhausatmosphäre. Die Direktorin hatte natürlich in jeder Hinsicht Recht. Aber sie wusste nichts vom wahren Grund ihres Anrufs: Diane musste präzise Antworten auf ihre Fragen erhalten.
»Sagen Sie mir nur eines«, bat sie. »Könnte Lucien … das heißt Lü-Sian … könnte er Ihrer Ansicht nach Vietnamese sein?«
»Vietnamese? Du lieber Gott, wieso denn Vietnamese?«
»Na ja … Vietnam ist ja nicht so weit, und …«
»Nein. Ausgeschlossen. Im Übrigen spreche ich Vietnamesisch – Lü-Sians Sprache ist etwas völlig anderes.«
»Ich danke Ihnen«, murmelte Diane. »Ich … ich rufe Sie wieder an.«
Sie legte auf und lauschte dem Echo nach, das die Worte der Direktorin wie in einem riesigen, kalten Kirchenschiff hinterlassen hatten.
In dem Moment kam ihr eine weit zurückliegende Erinnerung in den Sinn.
Es war in Spanien, in Asturien, wo sie mehrere Raubvogelarten zu orten hatte, und in einem Augenblick der Muße hatte sie ein Kloster besucht. Ein hässliches graues Gemäuer, das noch in der Zeit der Meditationen und des Stein gewordenen Raunens lebte. In der Bibliothek jedoch hatte sie ein faszinierendes Objekt entdeckt: In einer Glasvitrine hing an Drähten ein Stück Pergament. Seine raue, rötliche Oberfläche ließ es aussehen wie etwas Organisches, beinahe Lebendiges. In eng zusammengedrängten, gestochen scharfen Buchstaben lief die gotische Schrift über die Zeilen und ließ nur hin und wieder Raum für eine feine Illumination.
Aber das eigentlich Spannende war etwas anderes.
In regelmäßigen Abständen ging darüber ein ultraviolettes Licht an und brachte unter den schwarzen Buchstaben eine andere Schrift zum Vorschein, flüssig und temperamentvoll. Die Spuren eines früheren Textes aus der Antike. Wie ein Abdruck im Fleisch des Pergaments.
Diane begriff jetzt: Wenn ihr Sohn ein Palimpsest war, wenn seine Vergangenheit ein halb ausgelöschter Text war, dann besaß sie davon lediglich Krümel. Lü. Sian. Und die wenigen Wörter, die er während der drei Wochen, die er bei ihr in Paris verbracht hatte, häufig wiederholt hatte. Diese Wörter, die Térésa Maxwell nicht verstand.
KAPITEL 17
Eine der Zweigstellen des französischen Instituts für orientalische Sprachen und Kulturen befand sich in der Rue de Lille, direkt hinter dem Musée d’Orsay. Es war ein riesiges Gebäude, dunkel und herrisch und von jener erhabenen Würde, die, wie Diane fand, die schönen Wohnhäuser des siebten Arrondissements auszeichnete.
Sie durchquerte die marmorgeflieste Eingangshalle und drang in das Labyrinth der Treppen und Vorlesungssäle ein. Im ersten Stock fand sie das Sekretariat des Lehrstuhls für südostasiatische Sprachen. Sie trat ein, gab sich als Journalistin aus und erklärte der Sekretärin, sie arbeite an einer Reportage über die Völker des Goldenen Dreiecks: Ob sie wohl mit Isabelle Condroyer
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