Der steinerne Kreis
Eingreifen?
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Diane schaute auf. Patrick Langlois stand vor ihr, genau so, wie sie ihn zwei Tage zuvor kennengelernt hatte: schwarzer Mantel, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt. Offensichtlich besaß der Mann die Garnitur in mehrfacher Ausführung – wie eine Reihe von Leichen im Schrank. Im Übrigen roch er nicht nach Rasierwasser, sondern verbreitete einen merkwürdigen Geruch nach gebügelter Wäsche.
Statt einer Antwort stand sie auf. »Gehen wir lieber ein paar Schritte«, sagte sie.
Der Polizist nickte. Diane schlug den Weg zu den oberen Gartenanlagen ein: Über drei Alleen ging es eine sanfte rasenbewachsene Anhöhe hinauf.
»Es war eine gute Idee, diese Verabredung im Park«, sagte er in jovialem Ton.
»Ich bin gern hier. Ich wohne nicht weit.«
Sie stiegen die Steinstufen hinauf. An diesem trüben Tag waren die Wege fast menschenleer, und die Bäume schienen beinahe kokett den frischen Wind in ihrem Laub aufzunehmen, sowie eine Frau, die sich mit flatterndem Rock über den Lüftungsschacht der U-Bahn stellt.
Langlois holte tief Luft und erklärte: »Ich hätte nie gedacht, dass mir so was mal passiert.«
»Was?«
»Dass ich ein hübsches Mädchen auf einer Parkbank anspreche.«
»Haha«, meinte Diane und setzte eine halb amüsierte, halb gekränkte Miene auf.
Alle Furcht, alle Beklommenheit schien von ihnen abgefallen, von beiden. Mit leisem Abscheu dachte sie an den erbarmungslosen Egoismus der Lebenden gegenüber den Toten. Die glänzenden Blätter, die Frische des Windes, das Kindergeschrei in der Ferne waren die einzige Gegenwart, die zählte – und angesichts dieser Realität wog die Erinnerung an van Kaen nicht schwer.
»Als ich in der Ausbildung war, im Internat der Polizeischule«, begann der Inspektor, »bin ich am Wochenende ausgerissen und habe an der Sorbonne Blockseminare in Philosophie besucht. Am Abend kam ich dann immer hierher, in diesen Park. Damals hatte ich das Gefühl, ich sei an einer Naturkatastrophe vorbeigeschrammt: an der Arbeitslosigkeit. Aber dann sah ich eine andere Katastrophe auf mich zukommen, die ich noch schlimmer fand.«
»Was denn?«
Er breitete die Hände aus. »Die Gleichgültigkeit der Pariser«, sagte er. »Ich ging hier spazieren und beobachtete aus dem Augenwinkel die Leute, die auf ihren Eisenstühlen saßen und lasen und so turmhoch über allem standen, dass sie völlig unansprechbar waren. Und ich fragte mich, was man wohl sagen könnte, um einen Kontakt herzustellen. Wie man sie wohl ansprechen könnte.«
Diane lächelte. Eine feine Krümmung der Lippen, leicht wie die Brise. »Und?«, fragte sie.
»Ich habe keine Antwort gefunden.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und schlug einen vertraulichen Tonfall an: »Jetzt können Sie einfach Ihren Dienstausweis zücken.«
»Genau. Oder mit einer Truppe anrücken und alle kurzerhand verhaften.«
Diane lachte. Sie gingen auf das Tor an der Rue Auguste-Comte zu. Hinter dem Gitter waren weitere Gärten zu erkennen, kleiner und versteckter.
»Wie geht es Lucien?«, fragte Langlois.
»Es geht ständig aufwärts. Inzwischen wurden Muskelbewegungen in allen vier Gliedmaßen registriert.«
»Das ist ja wirklich phantastisch …«
»Das Leben. Der Tod«, fiel sie ihm ins Wort. »Das sagten Sie schon.«
Langlois lächelte. Seine verschmitzte Miene verlieh ihm einen kindlichen Charme. Dann fuhr er in ernstem Ton fort: »Ich wollte Sie über den neuesten Stand informieren. Wir haben den geheimnisvollen Doktor identifiziert. Er hieß tatsächlich Rolf van Kaen.«
Diane bemühte sich, ihre Ungeduld zu zügeln. »Und wer war er?«, fragte sie.
»Er hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Er war Chefarzt für Anästhesie in der kinderchirurgischen Abteilung des Berliner Krankenhauses Charité. Ein Riesenbetrieb, ungefähr so wie das Necker. Außerdem hatte er einen Lehrstuhl für Neurobiologie an der Freien Universität Berlin. Und er veranstaltete Kolloquien über Neurostimulation und ihre Verbindungen mit der Akupunktur. Offensichtlich eine Koryphäe.«
Diane dachte an die massige weißhaarige Gestalt im Halbdunkel des Zimmers, sah die Hände des Arztes, die vorsichtig die Nadeln im Körper des Kindes drehten, und fragte: »Wo hat er denn die Akupunktur gelernt?«
»Genau weiß ich das nicht, aber ich nehme an, in Vietnam. Dort hat er fast zehn Jahre gelebt, in den achtziger Jahren.«
Im Gehen hatte Langlois eine Aktenmappe aus der Tasche gezogen, in die er hin und wieder einen
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