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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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aufgegeben hatten.«
    Sie gingen noch immer durch den gleichmütigen Schatten der Bäume, und unter ihren Schritten knirschte der Kies. »Und über die Technik des Verbrechens, haben Sie da etwas Neues?«, fragte Diane.
    »Nein. Die Autopsie – die echte – hat die Erkenntnisse unseres virtuellen Vorstoßes bestätigt. Die Grausamkeit des Mordes ist wirklich haarsträubend. Man denkt fast … an eine Opferung, irgendwas von der Art. Wir haben nachgeforscht, ob es in Frankreich ähnliche Fälle gegeben hat. Aber nein, natürlich nicht. Abgesehen davon haben wir kein Indiz, keine Spur, nichts. Das einzig Neue, das die Autopsie ergeben hat, ist ein eigenartiges Leiden, von dem van Kaen befallen war.«
    »Was denn?«
    »Eine Atrophie des Magens: Er hat sich so stark zurückgebildet, dass van Kaen seine Nahrung praktisch wiederkäuen musste, ehe er sie schlucken konnte. Damit erklären sich die Schlieren an den Wänden des Kühlraums. Als van Kaen angegriffen wurde, spie er den Brei aus roten Beeren wieder aus, den er in der Speiseröhre hatte.«
    Diane hatte das Gefühl, als drängten Langlois’ Worte direkt in sie ein, bohrten sich unter ihre Haut wie winzige Kristalle der Angst. Eine geheime Welt ergriff Besitz von ihr und nahm unmerklich die Form eines gräßlichen Alptraums an.
    Inzwischen hatten sie den Brunnen der Sternwarte erreicht: acht steinerne Pferde, die sich unter wilden Kaskaden bäumten. Jedesmal, wenn sie hierher kam, wenn sich die Bäume dem Wind öffneten und die Luft nass war vom Tröpfchenschauer des Wasserfalls, empfand Diane dieselbe Traurigkeit und Leere, und diesmal war das Gefühl noch mächtiger als sonst.
    Langlois trat zu ihr, um sich über das Rauschen des Wassers hinweg verständlich zu machen. »Diane«, sagte er, »ich habe noch eine letzte Frage: Könnte Ihr Adoptivsohn aus Vietnam stammen?«
    Langsam drehte sie sich zu ihm und sah ihn durch den Schleier ihrer Tränen, als wäre er weit entfernt. Sie war weder erschrocken noch schockiert über seine Frage, noch war sie enttäuscht. Sie erkannte lediglich den Grund dieses morgendlichen Spaziergangs. Sie gab nicht gleich eine Antwort, und Langlois schien von ihrem Schweigen irritiert, vielleicht bereute er auch seine Frage. Jedenfalls fügte er nachdrücklicher hinzu: »Van Kaen hat fast zehn Jahre in Vietnam gelebt. Ich kann diese Möglichkeit nicht ausschließen. Vielleicht stammt Lucien aus einer Familie, die er gekannt hat – ich weiß ja nicht.«
    Diane stand da wie versteinert.
    In autoritärem Ton wiederholte er: »Antworten Sie, Diane. Kann es sein, dass Lucien aus Vietnam stammt?«
    Sie wandte sich wieder den vom Wasser überströmten Pferden zu. Die Tropfen wehten ihr ins Gesicht, und auf ihre Brillengläser legte sich ein feiner Nebel. »Ich weiß es nicht«, sagte sie endlich. »Es ist alles möglich.«
    Der Ton des Polizisten verlor seine Eindringlichkeit. »Könnten Sie sich erkundigen?«, fragte er. »Bei den Leitern des Waisenhauses?«
    Diane richtete den Blick in die Ferne. Jenseits des Boulevard Port-Royal fuhr der stürmische Himmel seine immergleichen Wolkenformationen auf. Sie empfand eine jähe Sehnsucht nach den Wolken der tropischen Regenzeit, die sich als quecksilberne Flammen in ihr Gedächtnis eingegraben hatten.
    »Ich werde dort anrufen«, versprach sie schließlich. »Ich werde nachforschen. Ich helfe Ihnen.«
     

 
     
KAPITEL 16
     
    Auf dem Rückweg gab sich Diane den wildesten Spekulationen hin. Auf dem Boulevard Port-Royal war sie überzeugt von Luciens vietnamesischer Herkunft. In der Rue Barbusse war sie sicher, dass er kein namenloses Kind war: Rolf van Kaen hatte seine Familie gekannt; auf mysteriöse Weise war der kleine Junge ausgesetzt worden, und auf noch geheimnisvollerem Weg hatte der deutsche Arzt von seinem Aufenthalt in Frankreich erfahren. In der Rue Saint-Jacques stellte sie sich vor, das Kind sei der geheim gehaltene Sprössling einer prominenten Persönlichkeit, die den Akupunkteur benachrichtigt und dringend nach Paris beordert hatte. Erst als sie vor ihrem Haustor stand und den Schlüsselkode eingeben musste, fanden ihre Hirngespinste ein jähes Ende.
    In ihrer Wohnung kam sie wieder zur Ruhe. Die vertrauten Empfindungen, die ihre drei Zimmer verbreiteten, besänftigten sie. Sie nahm sich Zeit, den Blick über die weißen Wände schweifen zu lassen, das Mahagoniparkett, die bodenlangen, makellosen Vorhänge, in denen sich die Erinnerung an Sonnen- und Regentage zu halten schien.

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