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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sprechen könne? Auf den Namen war sie in einem Sammelband mit völkerkundlichen Aufsätzen gestoßen, und die Wissenschaftlerin und Expertin für die Völker dieser Gegend erschien ihr als die beste Ansprechpartnerin.
    Die Sekretärin lächelte. Diane habe Glück, antwortete sie, denn Madame Condroyer halte in diesem Augenblick ein Seminar hier am Institut; sie brauche also nur in Zimmer 138 im Erdgeschoss zu warten, man werde die Frau Professor benachrichtigen.
    Diane ging wieder hinunter. Das Zimmer 138 war ein winziger Raum im Souterrain, dessen Strukturglasfenster auf Höhe des Erdbodens in einen Innenhof hinausgingen. Die aneinander gedrängten kleinen Tische, die schwarze Tafel, der Geruch nach lackiertem Holz erinnerten Diane an ihr eigenes Studium. Aus einem alten Reflex heraus setzte sie sich in die letzte Reihe, wie einst die einzelgängerische Studentin, und versank beinahe wider Willen in ihre Erinnerungen an die Universität.
    Wenn sie an diese Phase ihres Lebens zurückdachte, fielen ihr nicht die Stunden im Hörsaal ein, sondern die Exkursionen, die schon die letzten Jahre vor ihrer Promotion bestimmt hatten. Sie war nie eine eifrige Studentin gewesen, ebenso wenig wie sie eine leidenschaftliche Analytikerin und Theoretikerin war. Wirklich begeistern konnte sie sich nur für die Feldforschung. Funktionale Morphologie, ökologische Selbstorganisation, Topografie der Lebensräume, Populationsdynamik – diese Begriffe, diese Fachgebiete waren für sie immer nur Vorwand gewesen, um wieder aufzubrechen. Um auf der Lauer zu liegen, zu beobachten, ein Leben in Wildnis und Freiheit zu führen.
    Seit ihrer letzten Reise hatte Diane vor allem eins im Sinn: Sie wollte die Barbarei der Jagd, die Grausamkeit des Jägers begreifen. Sie war wie besessen von dieser Frage, deren anschaulichster Ausdruck für sie das Zuschnappen eines Kiefers über lebendigem Fleisch war. Aber vielleicht gab es ja gar nichts zu begreifen – nur zu erfahren. Wenn sie die großen Raubkatzen beobachtete, die im Dickicht auf der Lauer lagen, so reglos, dass sie mit der Vegetation eins waren, sich in die Struktur des Augenblicks einfügten, war sie sicher: Eines Tages würde sie sich selbst in diese Raubkatze, dieses Lauern, diesen Augenblick verwandeln. Es ging ihr nicht mehr darum, den animalischen Instinkt zu begreifen. Sie wollte in ihn eindringen. Man musste selbst zu diesem blinden Trieb werden, zu dieser Bewegung der Vernichtung, die keine andere Logik kannte als sich selbst …
    Unvermittelt ging die Tür auf. Isabelle Condroyer trug ihre hohen Backenknochen, wie andere hohe Pfennigabsätze tragen. Ihre Augen unter den kurz geschnittenen kastanienbraunen Haaren hatten einen leicht asiatischen Schnitt, doch die Farbe von grünem Tee: wie grüne Mandeln, frisch vom Baum gepflückt. Diese Frau hatte ohne Zweifel einen Schuss asiatischen Elixiers im Blut, doch dieser verlieh ihr nicht den Reiz einer exotischen Puppe, sondern eher die abweisende Schroffheit eines Berges. Diane stand auf.
    »Meine Sekretärin sagt, Sie sind Reporterin«, begann die Wissenschaftlerin. »Für welche Zeitung arbeiten Sie?«
    Diane bemerkte, dass die rote Bluse der Ethnologin zu eng war und zu indiskreten Schlitzen aufklaffte. Sie bemühte sich um ein entwaffnendes Lächeln. »Ach«, sagte sie, »das habe ich vor allem deshalb gesagt, weil ich unbedingt mit Ihnen sprechen wollte …«
    »Wie bitte?«
    »Ich brauche eine Auskunft. Es ist sehr dringend …«
    »Das ist doch nicht Ihr Ernst! Glauben Sie vielleicht, ich hätte sonst nichts zu tun?«
    Einen Moment lang hatte Diane das Bedürfnis, im selben Ton zu antworten, doch sie besann sich: Eine von vielen Kampftechniken bestand darin, den Schwung des Gegners umzukehren und gegen ihn selbst zu richten. Sie beschloss, die sentimentale Saite in Schwingung zu versetzen, um die Angriffslust der Frau zu überwinden.
    »Vor ein paar Wochen habe ich ein Kind adoptiert«, erklärte sie. »In Thailand, in einem Waisenhaus bei Ranong. Sie kennen das Gebiet sicher. Das Kind ist sechs oder sieben Jahre alt.«
    »Na und?«
    »Der Junge sagt ein paar Worte oder Sätze, und ich würde gern wissen, welche Sprache er spricht, was sein Heimatdialekt ist.«
    Die Ethnologin stellte ihre Aktentasche auf dem Katheder gegenüber den Studentenpulten ab und verschränkte die Arme, sodass die Knopfleisten an ihrer Bluse noch weiter aufklafften und einen Blick auf die Unterwäsche freigaben.
    Ungerührt fuhr Diane fort: »Wir hatten

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