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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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vor kurzem einen Autounfall, bei dem der Junge um ein Haar ums Leben gekommen wäre. Er ist noch immer nicht bei Bewusstsein, aber die Ärzte gehen davon aus, dass er bald aus dem Koma erwachen wird.«
    Die Frau musterte Diane mit einem veränderten Ausdruck, als fragte sie sich, ob sie es mit einer Verrückten zu tun hatte oder ob man eine solche Geschichte erfinden konnte. In Dianes Kopf nahm die Lüge eine klare und deutliche Gestalt an.
    »Nun geht es um Folgendes«, fuhr sie fort. »Die Ärzte halten es für günstig, wenn der Junge seine Muttersprache hört, sobald er aufwacht. Er ist ja erst seit ein paar Wochen in Paris, verstehen Sie?«
    Es klang so überzeugend, dass sie sich auf einmal fragte, ob sie nicht eine Wahrheit aussprach, eine Notwendigkeit, die es tatsächlich zu bedenken galt.
    Der Tonfall der Professorin wurde sanfter. »Ihre Geschichte ist … na ja … In welcher Verfassung ist er?«
    »Vor ein paar Tagen schien es noch hoffnungslos. Aber inzwischen sind die Ärzte zuversichtlich. Mehrere Anzeichen deuten darauf hin, dass er bald aufwachen wird. Allerdings bleibt das Problem eventueller Spätschäden.«
    Isabelle Condroyer setzte sich. Ihre Miene war noch immer unbewegt, doch es lag keine Feindseligkeit mehr darin, nur Ernst. »Aber«, sagte sie leise, »wenn er nicht spricht, wie soll ich dann …«
    »Er hat immer wieder dieselben Wörter gesagt. Vor allem zwei Silben. ›lü‹ und ›sian‹ …«
    »Und Sie haben keine Ahnung bezüglich seiner Volkszugehörigkeit?«
    »Keine. Nur diese beiden Silben.«
    Die Ethnologin musterte ihre Gesprächspartnerin lange. Diane trug eine ecrufarbene Weste, um den Hals eine Kette aus Quarzwürfeln, und hatte ihr Haar zu einem Knoten im Nacken geschlungen, der mit einer silbernen Nadel festgesteckt war. In einem Ton, der wieder kühl und wissenschaftlich war, sagte die Professorin schließlich: »Wissen Sie, wie viele Sprachen und Dialekte in der Region der Andamanen gesprochen werden?«
    »Nicht genau.«
    »Mehr als zwölf.«
    »Ich spreche aber von einem eng umgrenzten Gebiet. Einem Punkt auf der Landkarte. Das Waisenhaus befindet sich in Ranong, und …«
    »Bei den Migrationen infolge der Konflikte mit Birma, der Drogenkriege, der Zuzüge aus dem Goldenen Dreieck und aus Indien erhöht sich die Zahl der Idiome auf mindestens zwanzig. Vielleicht dreißig.«
    »Ich habe leider nicht mehr als diese beiden Silben. Aber Sie kennen doch ganz bestimmt einen Spezialisten für jeden Dialekt. Ich kann …«
    »Ein paar Wörter nützen überhaupt nichts!«, rief die Professorin leicht entnervt aus. »Vor allem, wenn sie von Ihnen wiederholt werden. In den meisten asiatischen Sprachen kann ein und dieselbe Silbe je nach Tonhöhe und Betonung und außerdem in Abhängigkeit von der Stellung am Satzanfang oder -ende grundverschiedene Bedeutungen annehmen …«
    Draußen stand die Sonne tief über dem Horizont und ließ das Strukturglasfenster feuerrot erglühen, als hätte die Erregung der Frau das Glas in Brand gesteckt.
    »Es tut mir leid«, schloss sie abrupt. »Ohne genaue Angaben über die Aussprache werden Sie nichts herausfinden. Ich kann nichts für Sie tun.«
    Diane lächelte sie strahlend an. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte sie und zog aus ihrer Handtasche den knallroten Kassettenrekorder, mit dem Lucien seine Gesänge aufnahm. Diane war sich darüber im Klaren gewesen, dass es unmöglich war, einen Dialekt zu identifizieren, ohne den Sprecher selbst zu hören, und hatte sich an die Kassette erinnert, auf der Luciens Stimme zu hören war.
    Sie drückte auf die Play-Taste, und sofort erscholl Luciens näselnde Stimme. Wie kindliche Seifenblasen stiegen seine abgehackten, leicht gutturalen Silben in die Stille des Abends. Isabelle Condroyer war wie vom Donner gerührt.
    Diane hatte gewonnen. Aber sie genoss ihren Sieg nicht: Sie war selbst völlig überrumpelt. Seit dem Unfall hatte sie diese Kassette nicht mehr gehört. Die Stimme des Kindes, die so unversehens den Raum füllte und mit Luciens Gegenwart auskleidete, mit seinem Gesicht, seinen schwungvollen Gebärden, durchfuhr sie wie eine Messerklinge. Binnen einer Sekunde war der Schmerz wieder da und trieb ihr brennende Tränen in die Augen.
    Sie senkte den Kopf und stützte die Stirn auf die Hand. Sie wollte nicht weinen. Sie krümmte sich zusammen, während im purpurfarbenen Licht des Zimmers Luciens Stimme erklang.
    Und auf einmal brach sie ab.
    Diane sah auf. Die Ethnologin hatte das

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