Der steinerne Kreis
Recht. Die Nadeln des Akupunkteurs stachen in keine physiologisch bedeutsamen Punkte, weder Nerven noch Muskeln, noch besonders empfindliche Hautregionen – jedenfalls nicht grundsätzlich. Die Existenz der Meridiane im Körper war physikalisch bislang nicht nachgewiesen worden, die Untersuchungen hatten lediglich ergeben, dass die Nadel mitunter Endorphine freisetzt, Hormone mit schmerzlindernder Wirkung. Andere Untersuchungen hatten die elektrischen Eigenschaften bestimmter Punkte ergeben. Doch keines dieser Resultate ließ sich generalisieren, und angesichts des phänomenalen Ergebnisses, das Rolf van Kaen erzielt hatte, stellten sie lediglich Begleiterscheinungen dar.
Aber der deutsche Arzt hatte ebenfalls Recht: In der chinesischen Medizin richtete sich die Akupunktur auf eine geheimnisvolle Größe, die sogenannte »Lebensenergie«, die van Kaen mit einer Art Urtrieb, einer Quelle des Lebens verglichen hatte. Und warum auch nicht? Trotz ihres streng rationalen Denkens, trotz ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung war Diane geneigt, angesichts der unfassbaren Entwicklung, die bei Lucien eingetreten war, alles für möglich zu halten. Offensichtlich hatte der Akupunkteur auf die physiologischen Mechanismen des komatösen Körpers auf einer Ebene eingewirkt, die für die Medikamente und Apparate der Schulmedizin nicht mehr erreichbar war.
Diane las weiter. Was sie jetzt interessierte, war der Strömungsverlauf dieser geheimnisvollen Kräfte. Van Kaen hatte von »unterirdischen Wasseradern« gesprochen, von den geheimen Quellen und Bächen, aus denen sich die Lebensenergie speiste: eben jenen Meridianen, die einer »unterirdischen« Topografie folgten. Mit diesen komplexen Strömungen und ihren Verbindungen untereinander befasste sich Diane während der nächsten Stunden.
Am erstaunlichsten war, dass diese Energie sowohl im Körperinneren wie außerhalb zu fließen schien. Es ging nicht allein darum, diesen oder jenen Meridian zu erwärmen, zu besänftigen, zu stimulieren, sondern vor allem galt es, diese Strömung mit den von außen einwirkenden Kräften in Einklang zu bringen. Letztlich fungierten die Nadeln als winzige Relaisstationen zum Universum, die dazu dienten, den Organismus mit einer angenommenen kosmischen Macht zu »harmonisieren«. Diane legte das Buch beiseite: Diese Begriffe, dieses Vokabular waren ihr unangenehm und erinnerten sie an den Jargon der Spiritualisten, an die Beschwörungsformeln, an die sich die verlorenen Seelen auf der Suche nach einem Guru klammerten. Aber dann dachte sie wieder an die Nadeln, grün leuchtend und vibrierend überall auf der Haut ihres Kindes, und musste zugeben, dass sie damals selbst an Schaltstellen gedacht hatte, an Relaisstationen zur Übertragung geheimnisvoller, unfasslicher Kräfte.
Diane löschte das Licht und dachte nach. Die Lektüre über die chinesische Medizin hatte ihr nichts weiter gebracht als eine hypothetische Erklärung: Vielleicht war Lucien aufgrund seiner Herkunft und seines kulturellen Erbes für die Akupunktur empfänglicher als andere. Vielleicht gab es eine genetische Veranlagung, die ihn auf dieses Heilverfahren so gut ansprechen ließ. Was wusste sie denn über diese uralten Regeln – waren das nicht ohnehin alles nur leere Vermutungen? Die ihr darüber hinaus über Luciens Herkunft nicht das Geringste verrieten!
Wieder dachte sie an die Begegnung mit van Kaen zurück und rief sich alle Einzelheiten in den Sinn, und es fiel ihr plötzlich ein Satz ein, auf den sie in der Qual jener Nacht kaum geachtet hatte, der jetzt aber eine besondere Bedeutung bekam. Zum Abschied hatte der Arzt zu ihr gesagt: »Dieses Kind muss leben, verstehen Sie?« Damals hatte sie aus der Bemerkung lediglich einen Willen zu heilen herausgehört. Aber sie konnte auch bedeuten, dass Lucien aus einem ihr unbekannten Grund überleben musste. Um jeden Preis.
Der deutsche Arzt hatte gesprochen wie einer, der ein Geheimnis kennt – eine Wahrheit über das Kind. Vielleicht war Lucien von außergewöhnlicher Geburt, wie Diane sich am Nachmittag schwärmerisch vorgestellt hatte. Oder vielleicht wies er eine physiologische Besonderheit auf. Oder es gab eine Aufgabe, eine Mission, die Lucien zu erfüllen hatte, sobald er älter wäre …
Offensichtlich war sie im Begriff, wieder in die alte Unart zu verfallen, absurde Vermutungen aufzustellen. Dennoch klang ihr immer noch wie ein Echo der Tonfall des Arztes im Ohr. Sie vernahm die extreme Anspannung, die geheime
Weitere Kostenlose Bücher