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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Nervosität hatte Diane das Zeitgefühl verloren.
    »Kommen Sie rein«, meinte er schließlich.
    Diane durchquerte einen engen Flur voller CDs und Videokassetten und erblickte rechts die Küche: Linoleumboden und Resopalmöbel. Mit einer Handbewegung forderte der Mann sie auf, einzutreten.
    Durch graue Rollos drang das trübe Tageslicht herein. Ein Spülbecken, ein Wasserkocher: zwei helle Flecken, halb verborgen unter dem Stapel schmutziger Teller. Und über allem lag der hartnäckige Haschischgeruch. Vor dem halb offenen Fenster erspähte Diane einen Stuhl und nahm unter weiterem glitzerndem Geknister ihres Regenmantels rasch darauf Platz.
    Der Mann setzte sich ihr gegenüber auf einen Schemel. Aus den Falten der Kapuze um seinen Hals ragte ein langes, ausgemergeltes Gesicht. Blonde Haare, zu einem Entenschwanz geschnitten, und ein spärlich gekräuseltes Kinnbärtchen, das an Maisgriffel erinnerte. Er trug kein Pflaster mehr, nur an der Stirn und den Brauen erinnerten noch ein paar bräunliche Krusten an den Unfall.
    Mit gesenktem Kopf murmelte er: »Ich wollte ja ins Krankenhaus kommen, aber …«
    Er verstummte und hob den Kopf. Sein grüner Blick ließ sie an kleine Bullaugen vor einem Eismeer denken.
    »Ist er … Also, das Kind … ist es …?«, stotterte er schließlich.
    Diane begriff, dass ihm niemand Bescheid gesagt hatte. »Es geht ihm besser«, sagte sie. »Damit hatte keiner gerechnet, aber er scheint tatsächlich auf dem Weg der Besserung zu sein. Also reden wir nicht über ihn, okay?«
    Vulovic nickte einmal kurz und starrte seine Gesprächspartnerin unschlüssig an, mit krummem Rücken und eingezogenen Schultern. Ein Drogenabhängiger, der von seiner Sucht nicht loskam.
    »Was wollen Sie dann?«, fragte er.
    »Mit Ihnen über die Hintergründe des Unfalls sprechen. Ich will wissen, wie es dazu kam, was Ihnen passiert ist.«
    Im Gesicht des Lkw-Fahrers zuckte es, und in seinen Augen blitzte Argwohn auf. Diane ließ ihm keine Zeit zu einer Antwort.
    »Sie sagten, sie seien an dem Abend vom Parkplatz an der Avenue de la Porte d’Auteuil gekommen. Was haben Sie dort getan? Geschlafen?«
    Der Mann fing unwillkürlich zu grinsen an, und ein geiles Funkeln trat in seine Augen. »Sie wissen wohl nicht, was dort abgeht, wie?«, fragte er. »Abends, meine ich?«
    Diane stellte sich eine gesichtslose Zubringerstraße direkt zum Bois de Boulogne vor, eingezwängt zwischen dem Boulevard Périphérique und dem Roland-Garros-Stadion. Dann sah sie plötzlich dieselbe Szene bei Nacht vor sich, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, als sie begriff, was ihre eigenen Ängste und Zwänge ihr bis dahin verborgen hatten: Nutten. Der Mann war auf dem Straßenstrich gewesen.
    Er nickte, wie um ihre Gedanken zu bestätigen. »Das ist klassisch«, sagte er. »Ein Muss vor jeder Fahrt. Ich hatte eine Fuhre nach Holland. Hilversum. Hin und zurück. Vierundzwanzig Stunden auf der Straße.«
    »Na gut«, antwortete Diane. »Aber ich habe die Statistik über mangelnde Aufmerksamkeit im Straßenverkehr gelesen. Achtzig Prozent der Unfälle mit Lkws, bei denen der Fahrer am Steuer eingeschlafen ist, ereignen sich zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr morgens. Aber nach derselben Statistik passieren sie nie auf Zufahrts- und Umgehungsstraßen, weil die Nähe der Großstadt die Fahrer naturgemäß wieder aufweckt. Wenn Sie also vom Parkplatz …«
    »Soll das ein Verhör sein?«, fiel ihr der Mann plötzlich aggressiv ins Wort.
    »Nein, ich will nur verstehen. Verstehen, wie es kommt, dass Sie um Mitternacht eingeschlafen sind, nachdem Sie gerade bei einer Prostituierten waren und vierundzwanzig Stunden auf der Straße vor sich hatten.«
    Vulovic wand sich. Seine Hände auf dem Tisch zitterten. Diane bezwang ihre eigene Nervosität und wechselte jäh die Richtung: »Wie halten Sie sich denn wach?«
    »Mit Kaffee. Wir nehmen Thermoskannen mit.«
    Dianes Nasenflügel zuckten – eine stumme Anspielung auf den Geruch in dieser verschlampten Küche.
    »Sie rauchen auch, oder?«
    »Wie jeder.«
    »Ich meine Shit.«
    Der Mann gab keine Antwort. Sie fuhr fort: »Haben Sie sich nie überlegt, dass Sie dabei auch draufgehen können? Wenn Sie einschlafen?«
    Vulovic reckte den Hals. Unter der Haut pochte die Schlagader.
    »Alle Fahrer nehmen was, um durchzuhalten. Jeder hat seine Methode. Kapiert?«
    Diane beugte sich über den Tisch. Die Anwandlung von Aufmüpfigkeit machte ihr keinen Eindruck; stattdessen ging sie dazu über, ihn zu

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