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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Angst, die er während der Behandlung sichtlich im Zaum gehalten hatte. Dieser Arzt wusste etwas. Lucien war kein Kind wie andere. Und das hatte Langlois mit seiner Schnüfflernase gewittert: Deshalb interessierte er sich so lebhaft für Lucien und seine Herkunft.
    Nachdem sie nun schon einmal dabei war, kam Diane noch ein anderer Gedanke.
    Eine so zwingende Notwendigkeit, das Kind zu retten, konnte auch ein Grund sein, es zu vernichten … Und wenn van Kaen ermordet worden war, eben weil er den Jungen gerettet hatte?
    Wenn über Lucien eine Gefahr schwebte?
    Sie erstarrte. Ein neuer Gedanke verschlug ihr den Atem.
    Und wenn die Gefahr bereits Wirklichkeit geworden war?
    Was, wenn der Unfall auf dem Boulevard Périphérique gar kein Unfall gewesen war?#

 

Zweiter Teil
     
    D IE W ÄCHTER
     
     
     
KAPITEL 19
     
    Montag, 11. Oktober.
    Diane fuhr die Festungsmauer des Mont Valérien im Pariser Vorort Suresnes entlang.
    Sie hatte den von weißen Kreuzen übersäten amerikanischen Friedhof hinter sich gelassen, war dann den grünen Anhöhen oberhalb des Bois de Boulogne gefolgt, was ein Umweg war, aber anscheinend hatte sie irgendwann nach der Seine-Brücke von Saint-Cloud eine falsche Abzweigung genommen. In ihrem Leihwagen fuhr sie jetzt die Rue des Bas-Rogers hinab und fand sich im tristen städtischen Grau wieder, der eintönigen Langeweile der Vororte, der trübsinnigen Alleen, der abweisenden Gassen unter dem herbstlichen Regen.
    Diane nahm es mit ihren Nachforschungen sehr ernst. Sie hatte das Wochenende genutzt, um diverse Erkundigungen einzuholen, doch der entscheidende Schritt stand erst jetzt an. Sie fuhr unter einem steinernen Aquädukt hindurch, folgte in einem Kreisverkehr dem Wegweiser, der stolz das Viertel Belvedere ankündigte, und erspähte schließlich rechter Hand die Rue Gambetta. Unterhalb des Bahndamms zog sich die Reihe eng aneinander gedrückter Pavillons entlang, die den Eindruck machten, als müssten sie in dieser Stellung Jahrtausende überdauern.
    Die Nummer 58 war ein zweistöckiges Backsteinhaus mit schmiedeeisernen Balkongittern, schmutzig und heruntergekommen. Diane fand ohne Mühe einen Parkplatz und trat ein. Drinnen empfingen sie ein Hausflur, der so renovierungsbedürftig war wie die Fassade, schmierige Blechbriefkästen, Stufen zu einem düsteren Treppenhaus. Der Geruch der Mülltonnen passte gut in dieses Bild – ein Destillat der Geschichte des Hauses, das sich bösartig und missgelaunt unter der Treppe zusammenkauerte.
    Sie drehte den Lichtschalter und stellte fest, dass keine Lampe anging – wohl auch nie mehr angehen würde. Sie entdeckte ein angeschimmeltes Pappschild mit den Namen der Mieter, und im spärlichen Tageslicht, das von draußen hereinfiel, fand sie den Namen, den sie suchte – den Namen, den sie Patrick Langlois tags zuvor bei einem privaten Anruf mit viel Mühe entlockt hatte.
    Knarzende Stufen und ein klebriges Treppengeländer: Es ging weiter wie erwartet. Diane trug einen langen, glänzenden Regenmantel, petrolfarben, der bei jedem Schritt raschelte. Von ihren Schultern perlte der Regen, und diesen funkelnden Tropfenschauer fand sie beruhigend. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf und läutete an der Wohnungstür links.
    Keine Reaktion.
    Sie läutete noch einmal.
    Eine weitere Minute verging. Diane war schon im Begriff, kehrtzumachen, als sie drinnen das Geräusch einer Toilettenspülung vernahm.
    Endlich ging die Tür auf.
    Ein junger Mann in einer form- und farblosen Joggingjacke mit Kapuze stand auf der Schwelle. Im Halbdunkel konnte Diane sein Gesicht nicht sehen, es fiel ihr nur auf, dass er jünger war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Maximal dreißig. Auch dürrer war er. Aber vor allem fiel ihr der Haschischgeruch auf, der durch den Türspalt waberte. Der Kerl war offensichtlich damit beschäftigt, sich einzurauchen. Daher die Langsamkeit, mit der er sich zur Tür bemüht hatte.
    »Sie sind doch Marc Vulovic?«, fragte sie.
    Die Gestalt rührte sich nicht. Endlich kam eine verschnupfte, schleppende Stimme: »Wassis?«
    Diane rückte ihre Brille zurecht. Die verwaschene Sprache bestätigte ihre Befürchtungen – und Cannabis war anscheinend nicht das einzige, was der Mann sich genehmigte.
    »Ich bin Diane Thiberge.«
    Keine Reaktion.
    »Sie wissen, wer ich bin, oder?«, fragte sie nach.
    »Nein.«
    »Ich habe in der Unfallnacht den Jeep gefahren.«
    Vulovic blieb stumm. Eine Minute verging. Vielleicht auch nur ein paar Sekunden – in ihrer

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