Der steinerne Kreis
Gerät abgestellt, als sie begriffen hatte, was vorging. Diane wollte etwas sagen, doch die Professorin war bereits aufgestanden, legte ihr die Hand auf die Schulter, und ihre Stimme, die wenige Sekunden zuvor noch so hart und abweisend gewesen war, murmelte leise: »Lassen Sie mir die Kassette da. Ich will sehen, was ich tun kann.«
KAPITEL 18
Die aneinander gelegten Hände.
Das war die eine Technik im Wing-Tsun, in der Diane am routiniertesten und schnellsten war. Eine Technik, bei der man in ständiger Tuchfühlung mit dem Gegner war, man zum Angriff ansetzen oder ihm ausweichen musste, ohne je den Kontakt zu verlieren. Fausthiebe. Stöße mit dem Ellenbogen. Handkantenschläge. Der Hagel der Gewalt prasselte nieder, ohne dass man je in Deckung gehen oder zurückweichen konnte – man war mit dem Feind wie verwachsen.
Diane hätte über diese vielfachen Berührungen Abscheu empfinden müssen, doch das war nicht der Fall. Hier ging es nur um Kampf, und im Kampf war sie gegen ihre Phobie gefeit. Mehr noch: Im Kampf verschaffte ihr die Berührung sogar eine unterschwellige Lust. Als könnte sie innerlich die Umkehrung der Geste genießen – aus der Zärtlichkeit wurde Gewalt.
Im Übrigen hatte Diane ein Geheimnis: Im Nahkampf war sie nicht zuletzt deshalb so hervorragend, weil sie kurzsichtig war und ihre beste Aussicht auf den Sieg darin bestand, dass sie im unmittelbaren Gesichtsfeld agierte, dort, wo sie sämtliche Details erkannte. Sie hatte ihr Handicap in einen Vorteil verwandelt, hatte gelernt, den Feind stets vor Augen zu haben, setzte vor allem auf Geschwindigkeit und ging Risiken ein, deren Heftigkeit ihre Gegnerinnen aus der Fassung brachte.
Das Training an diesem Abend war ein ideales Ventil, um die Aufregungen des Tages abzubauen. Nach dem Anruf bei Térésa, nach ihrem Gespräch mit der Ethnologin war Diane sofort zum Krankenhaus gefahren, aber Lucien wurde gerade untersucht, und man hatte sie nicht zu ihm gelassen. Zuerst war sie in Zorn geraten, bis sie begriff, dass Doktor Daguerre vorhatte, am nächsten Morgen die Dränageschläuche zu entfernen.
Dennoch war ihre Freude getrübt. Der Mord an van Kaen überschattete alles andere, sogar die fortschreitende Genesung ihres Sohnes. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um die Grausamkeit des Verbrechens – die Hand, die sich durch Eingeweide gewühlt hatte, den Heidelbeerbrei an den Wänden, den Bildschirm, der ihr die Aufnahme des geborstenen Herzens gezeigt hatte. Die Bilder gingen ihr nicht aus dem Sinn, alles verschwamm ineinander, und es gelang ihr nicht mehr, den Mord und die Heilung ihres Kindes auseinander zu halten.
Im Übrigen wurde das Klinikgebäude, in dem Lucien untergebracht war, inzwischen von uniformierten Polizisten bewacht. Der »Sicherheit« halber, erfuhr sie, als sie Madame Ferrer nach dem Grund fragte. Was für eine Sicherheit? Vor welcher Gefahr? Trieb sich ein Mörder in den Fluren der Necker-Klinik herum? Um sich nicht mit endlosen Fragen zu quälen, auf die es ohnehin keine Antwort gab, zog sie es vor, das Dojo aufzusuchen und sich dem Schweißgeruch und dem Hagel der Schläge auszusetzen. Die aneinander gelegten Hände. Eine Methode, die so gut wie jede andere war, um Ängste auszuschwitzen …
Als sie wieder zu Hause war, nahm sie eine heiße Dusche, dann hörte sie den Anrufbeantworter ab. Es war alles dasselbe – die immer gleiche Liste der Freunde und Bekannten, die sich nach dem neuesten Stand erkundigten und ihr Trost zusprachen. Auch etliche Anrufe ihrer Mutter waren auf dem Band, doch jedesmal, wenn Diane die verhasste Stimme erkannte, drückte sie auf die Taste Next .
Sie ging in die Küche. Mit nassen Haaren und erhitzten Wangen kochte sie sich einen sehr schwarzen Darjeeling und stellte Teekanne, Keksschale und Joghurt auf ein Tablett – im Moment ernährte sie sich fast ausschließlich von Keksen und Milchprodukten. Dann machte sie es sich mit den Büchern, die sie nachmittags erstanden hatte, im Schlafzimmer bequem.
Es gab noch eine Spur, der sie nachgehen konnte. Eine zweifelhafte, indirekte Spur, die ihr jedoch ein tiefes Unbehagen verursachte: die Akupunktur. Sie wollte zu begreifen versuchen, auf welche Weise van Kaen auf Luciens Körper eingewirkt hatte. Irgendwie ahnte sie, dass das Verfahren der Akupunktur mit den übrigen Ereignissen der schicksalhaften Nacht in Verbindung stand.
Eine Stunde genügte, um ihr mehrere Fakten zu bestätigen.
Erstens: Eric Daguerre hatte
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