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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sollte sie spüren, wie ihre Gliedmaßen schwer wurden, und unmittelbar darauf war Diane in einen Zustand intensiver Aufmerksamkeit eingetreten. Sie hatte die Trägheit ihrer Hände und Füße gespürt, die Schwere ihres Körpers, die mit jeder Sekunde zunahm, während ihr Geist im Gegenteil immer leichter wurde und befreit aufflog.
    »Wir wollen jetzt die Erinnerung an den Unfall hervorholen.«
    Diane, die aufrecht dasaß, die Hände auf den Armlehnen des Sessels, nickte und senkte den Kopf.
    »Sie kommen aus dem Haus, in dem Ihre Mutter wohnt. Wie spät ist es?«
    »Ungefähr Mitternacht.«
    »Wo genau sind Sie, Diane?«
    »Ich stehe vor dem Haustor der Nummer 72 am Boulevard Suchet.«
    Prasselnder Regen. Durchsichtige Linien. Die schwarze Fläche des Asphalts übersät wie von Tausenden kreisrunder Narben.
    Hohe Steinfassaden, glänzend vor Nässe. Bläulich leuchtende Straßenlaternen, die Dunstwolken verströmen, als wären sie lauter ungeduldige Münder.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    Sie lächelte mit geschlossenen Augen und gab keine Antwort.
    Champagner in den Adern, wie unterirdische Rinnsale, denen der Wolkenbruch draußen nichts anhaben kann. Sie spürt den Regenschauer in ihrem Nacken, leichte, dicht gedrängte Tropfen.
    Sie fühlt sich wohl. Alles ist unscharf. Der Zorn während des Abendessens ist vergessen. Ebenso Charles’ Kuss. Sie schmiegt sich ganz in die Gegenwart.
    »Diane, wie fühlen Sie sich in diesem Augenblick?«
    »Ausgezeichnet.«
    »Sind Sie allein?«
    In ihren Armen spürt sie jetzt die Wärme des Kindes. Seinen schlaf warmen Nacken, seinen nachgiebigen, anschmiegsamen Körper. Die Seligkeit seines Schlafs, die der Regen nicht zu stören vermag.
    »Ich trage meinen Adoptivsohn Lucien in den Armen.«
    »Was tun Sie jetzt?«
    »Ich überquere den Boulevard.«
    »Wie ist der Verkehr?«
    »Es ist nichts los, alles leer.«
    »Wo haben Sie Ihr Auto geparkt?«
    »Am Hippodrom von Auteuil.«
    »Erinnern Sie sich an den Namen der Straße?«
    »Avenue du Maréchal-Franchet-d’Espérey.«
    »Nennen Sie mir weitere Einzelheiten. Was für einen Wagen fahren Sie?«
    »Einen Geländewagen. Ziemlich alt. Einen Toyota Landcruiser aus den achtziger Jahren.«
    »Können Sie ihn jetzt sehen?«
    »Ja.«
    Wenige Meter vor ihr erkennt sie ihren Wagen im Regen. Eine beunruhigende Ahnung ergreift sie. Das schlechte Gewissen nagt an ihr. Sie bereut den Champagner. Dieses Ritual, das sie im Grunde verabscheut. Sie wäre jetzt gern wieder bei völlig klarem Verstand.
    Sachers Stimme tönte durch den Raum, fern und nah zugleich: »Was tun Sie jetzt?«
    »Ich öffne die Tür.«
    »Welche Tür?«
    »Die Tür rechts hinten. Wo Luciens Kindersitz ist.«
    »Und dann?«
    Ehe sie den Gedanken formulieren konnte, lieferte ihr Körper die Antwort in Form sehr scharfer, beinahe überdeutlicher Empfindungen.
    Der peitschende Regen auf ihrem Rücken. Die Wärme, die aus dem Ausschnitt ihrer Jacke aufsteigt. Ihr Körper, der sich mit Lucien ins Wageninnere beugt.
    Die Stimme des Hypnotiseurs wurde eindringlicher: »Was tun Sie jetzt, Diane?«
    »Ich setze Lucien in seinen Kindersitz …«
    »Das ist ein sehr wichtiger Moment, Diane. Beschreiben Sie ganz genau jeden einzelnen Handgriff.«
    Unter ihren Fingern ertönt ein kurzes Geräusch: das Klicken, mit dem die Gurtschnalle einrastet. Augenblicklich empfindet sie die subtile, geheime, selbstsüchtige Wonne wie bei jeder, auch der unbedeutendsten Geste, die sie zum Schutz ihres Kindes ausführt.
    Noch ein paar Sekunden. Endlich begann Diane zu sprechen: »Ich … ich habe den Sicherheitsgurt geschlossen.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Absolut.«
    Sachers tiefe Stimme drang in ihr Bewusstsein: »Halten Sie hier an. Sehen Sie sich den Innenraum Ihres Fahrzeugs ganz genau an.«
    Der bewusste Teil in ihr begriff, dass nun ihre mentale Kamera zum Einsatz kam. Sie ließ den Blick durch das erinnerte Bild schweifen.
    Der dunkle Innenraum des Wagens. Die abgeschabten Polster, übersät von allem möglichen Kram. Die zerknitterte kakifarbene Decke halb auf dem Boden. Der Stapel alter Zeitschriften im Heckraum. Die Türen aus nacktem Blech, ohne irgendeine Verkleidung …
    Sie war tatsächlich in der Lage, ihre Erinnerung systematisch abzutasten, zu erforschen, regelrecht zu durchkämmen. Sie konnte sich diese Details ansehen, die ihr im Moment des Geschehens nicht ins Bewusstsein gedrungen waren, doch ihr Gedächtnis hatte sie festgehalten, ohne dass sie es wusste.
    »Was sehen Sie,

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