Der steinerne Kreis
»NEIN!«
Sie prallte gegen die jalousieverhängten Fenster. Sacher eilte zu ihr. »Was sehen Sie, Diane?«
Wieder schrie sie: »NEIN!«
»Was sehen Sie?«
Diane konnte nicht antworten. Der Psychiater wechselte den Ton. Ruhig, aber vollkommen unbeteiligt befahl er: »Wachen Sie auf.«
Sie schauderte, krümmte sich und sank am Fuß der Rollos in sich zusammen.
»WACHEN SIE AUF! ICH BEFEHLE ES IHNEN!«
Diane taumelte ins wache Bewusstsein zurück. Ihre Lider flatterten. Anscheinend hatte sie sich an einer Lamelle der Jalousie verletzt: Ein Rinnsal Blut mischte sich mit den Tränen, die ihr über die Wangen flossen.
Sacher beugte sich über sie. »Beruhigen Sie sich, Diane«, sagte er sanft. »Sie sind jetzt hier bei mir. Es ist alles in Ordnung.«
Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte der Arzt.
Ihre Lippen bebten, kein Laut kam heraus.
In seinem liebenswürdigsten Ton fuhr er fort: »War ein Mann in Ihrem Auto?«
Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Haarmähne flog. »Nein, nicht im Auto.«
In der Miene des Psychiaters malte sich Verblüffung. Diane versuchte weiterzusprechen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Das letzte Bild, das sie gesehen hatte, hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt.
Genau in dem Augenblick, als sie sich wieder der Straße zuwandte, hatte sie ihn entdeckt: An der rechten Straßenseite, hundert Meter entfernt, stand zwischen den Büschen am Rand der Ringstraße ein Mann. In einen langen olivgrünen Umhang gehüllt, die Kapuze über dem knochigen Gesicht, deutete er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Lastwagen, als hätte er, allein mit dieser Gebärde, die Katastrophe ausgelöst.
Diane war sich ganz sicher, dass sie seinen grünen Mantel wiedererkannt hatte: Es war ein Strahlenschutzparka der russischen Armee.
KAPITEL 29
»So etwa?«
Der Informatiker ließ dem Phantombild auf dem Monitor vorspringende Backenknochen wachsen. Diane nickte. Es war Mitternacht. Seit fast zwei Stunden saß sie im Polizeipräsidium und versuchte jetzt zusammen mit einem Phantomzeichner, ein Porträt der Gestalt am Boulevard Périphérique zu erstellen. Nach der Hypnosesitzung hatte sich Diane trotz seiner drängenden Fragen von Paul Sacher verabschiedet und war auf direktem Weg zur Kriminalpolizei gefahren.
»Und der Mund?«
Diane sah verschiedene Mundformen auf dem Bildschirm vorüberziehen und verschwinden. Fleischige Ausstülpungen. Ein schmales Oval. Gehobene Mundwinkel. Sie entschied sich für dünne, gerade Lippen mit ausgeprägten Furchen zu beiden Seiten.
»Und die Augen?«
Wieder marschierte eine Parade verschiedener Augenformen über den Monitor, und Diane suchte sich zwei Rauten mit hängenden Lidern aus, dazu eine dunkle, bläuliche Iris – dunkle Kugeln, wie Murmeln im Federmäppchen eines Kindes. Ein Gesicht, das sie aus mehr als hundert Metern Entfernung flüchtig erblickt hatte, so präzise definieren zu wollen war absurd, und doch hätte sie schwören können: Die Augen des Mörders, wie alle anderen Merkmale, die sie ausgesucht hatte, sahen genau so aus.
»Und die Ohren?«
»Er hatte eine Kapuze auf dem Kopf«, antwortete Diane.
»Was für eine?«
»Eine Anorak-Kapuze. Fest zugezogen.«
Der Phantomzeichner umgab das Gesicht mit einem faltigen Schatten, der perfekt eine Kapuze nachahmte. Eine hohe, kahle Stirn. Wangenknochen wie zwei Steine, eingefasst von Runzeln. Blauschwarze Augen, die wie Achat unter den trägen Lidern hervorblitzten. Diane hätte etwas Monströses in diesem Gesicht entdecken wollen, irgendein Anzeichen von Grausamkeit – doch sie konnte sich nur vor der zeitlosen Schönheit dieser Züge beugen.
Patrick Langlois kam herein. Er warf einen Blick auf den Monitor, dann auf Diane. Auf seiner Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. »So hat er ausgesehen?«, fragte er.
Diane nickte. Der Inspektor betrachtete das Porträt ohne rechte Überzeugung. Um zehn Uhr abends hatte er sich bereit erklärt, noch einmal ins Büro zu fahren und den Phantomzeichner kommen zu lassen, um das Gesicht zu rekonstruieren. Er setzte sich auf die Schreibtischkante, seine Aktenmappe an die Brust gedrückt.
»Und er trug einen Militärparka, sagen Sie?«
»Ja. Sowjetischer Machart. Aus Strahlenschutzmaterial.«
»Wieso sind Sie sich da so sicher?«
»Vor fünf Jahren habe ich an einer Expedition zur ostsibirischen Halbinsel Kamtschatka teilgenommen. Wir waren in einem
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