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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Diane?«
    »Nichts Besonderes.«
    Paul Sachers Schweigen war angespannt. Undeutlich wurde Diane gewahr, dass der Psychiater auf der Lauer lag. »Machen wir weiter?«, fragte er.
    »Ja.«
    Sein Tonfall wurde wieder neutral. »Fahren Sie jetzt den Boulevard Périphérique entlang?«
    Sie nickte.
    »Antworten Sie bitte laut.«
    »Ich fahre den Boulevard Périphérique entlang.«
    »Was sehen Sie?«
    »Lichter. Reihen von Lichtern.«
    »Drücken Sie sich deutlicher aus. Was genau sehen Sie?«
    Am rechten und linken Rand ihres Bückfelds sausen die Straßenlaternen vorüber, Glühkörper unter gläserner Hülle. Diane kann beinahe die Struktur des Glases wahrnehmen, die vom orangegelben Natriumlicht angestrahlt wird.
    »Die Neonröhren«, murmelte sie. »Sie blenden mich.«
    »Wo sind Sie jetzt?«
    »An der Porte de la Muette.«
    »Sind noch andere Autos unterwegs?«
    »Sehr wenige.«
    »Auf welcher Spur fahren Sie?«
    »Der vierten, links außen.«
    »In welchem Gang fahren Sie?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Die Stimme wurde gebieterisch: »Schauen Sie auf den Tachometer.«
    Diane betrachtete das Armaturenbrett ihrer Erinnerung. »Ich fahre hundertzwanzig.«
    »Sehr gut. Schauen Sie jetzt hinaus auf die Straße: Fällt Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auf?«
    »Nein.«
    »Sehen Sie nie nach hinten zu Ihrem Sohn?«
    »Doch. Ich habe sogar den Rückspiegel so verstellt, dass ich ihn sehen kann.«
    »Schläft Lucien noch?«
    Die zarte, opake Gestalt im Kindersitz. Der tiefe Schlaf, der durch nichts zu stören ist. Schwarze Haare, mit der Dunkelheit verschmolzen. Ein Buschwerk, das eine Wiege der Ruhe bildet.
    »Er schläft tief.«
    »Er bewegt sich nicht?«
    »Nein.«
    »Es bewegt sich überhaupt nichts hinten im Wagen?«
    Diane musterte das Blickfeld des Rückspiegels. »Nein, nichts.«
    »Schauen Sie wieder auf die Straße. Wo sind Sie?«
    »Fast bei der Porte Dauphine.«
    »Sehen Sie schon den Lkw?«
    Ein Anflug von Entsetzen unter der Haut. »Ja, ich …«
    »Was ist los?«
    Unter dem Ansturm des Wolkenbruchs geraten die parallelen Geraden der Autobann aus dem Gleichgewicht. Nein: Es sind nicht die Geraden. Es ist der Lastwagen. Der Lkw ist von seiner Spur abgekommen – er scheint die gesamte Straße hinter sich herzuziehen. Ohne zu blinken, ohne irgendein Signal schiebt er sich von der Seite her schräg zwischen die geraden Linien des Regens und der Lichter …
    Diane richtete sich im Sessel auf. Sachers Stimme wurde eine Spur lauter. »Was ist los?«, wiederholte er.
    »Der Lastwagen … er … er … schert nach links aus.«
    »Und jetzt?«, fragte der Hypnotiseur.
    »Er kommt auf meine Spur herüber …«
    »Was tun Sie?«
    »Ich bremse!«
    »Was passiert jetzt?«
    »Die Räder blockieren auf der nassen Straße. Ich gerate ins Schleudern, ich …« Diane stöhnte. Die Erinnerung traf sie mit voller Wucht.
    Der Lastwagen prallt gegen die Leitplanke. Schwenkt herum unter metallischem Kreischen. Die Fahrerkabine dreht sich, die Scheinwerfer sind direkt auf Dianes Frontscheibe gerichtet.
    »Was sehen Sie?«
    »Nichts, ich sehe nichts mehr! Es ist alles voller Wasser und Licht. Ich … ich bremse. Ich bremse!«
    Der Lastwagen schlingert und erbebt in seinem Aufbau. Hydraulisches Jaulen. Quietschende Bremsen. Blechteile, die aus dem Chaos herausgeschleudert werden …
    Diane spürte eine Hand auf der Schulter. Und hörte Sachers Stimme ganz nahe: »Und Lucien, Diane? Werfen Sie keinen Blick auf Lucien?«
    »Doch!«
    Mit kristalliner Klarheit kehrte die Erinnerung zurück. Unmittelbar vor dem Aufprall, eine Sekunde bevor sie mit höchster Geschwindigkeit in die Leitplanke krachte, hatte sie sich zu ihrem Kind umgedreht.
    Das zarte schlafende Gesicht. Und auf einmal öffnen sich die Lider. Mein Gott. Er wacht auf. Er wird miterleben, was passiert …
    »Sagen Sie mir, was Sie sehen!«
    »Er … er … er wacht auf. Er ist wach!«
    Sacher sprach jetzt sehr eindringlich auf sie ein: »Sehen Sie den Gurt? Ist er noch angegurtet?«
    Die verängstigte Miene des Kindes … panisch aufgerissene Augen … die Pupillen schreckgeweitet …
    »Diane, sehen Sie sich den Gurt an! Ist Lucien dabei, ihn zu öffnen?«
    »ICH KANN NICHT!«
    Diane konnte die Augen nicht von Lucien abwenden. Sachers Stimme drang durch ihr Entsetzen: »Schauen Sie auf die Straße, Diane! Schauen Sie wieder auf die Straße.«
    Mit einer reflexhaften Bewegung fuhr sie herum, und aus ihrer Kehle drang ein Schrei, so heftig, dass sie aus ihrem Sessel aufsprang:

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