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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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auch diese Art von Erinnerung ins Bewusstsein heraufholen kann, und zwar noch präziser?«
    Diane schwirrte der Kopf. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie noch länger bleiben sollte – die ganze Sache wurde ihr allmählich unheimlich. Vollends verwirrt war sie, als sie merkte, dass, obwohl draußen die Nacht hereingebrochen war und der Raum fast im Dunkeln lag, die Augen des Hypnotiseurs eindringlicher als zuvor strahlten. Sie hatte fast den Eindruck, als reflektierten seine Pupillen das Licht wie bei manchen nachtaktiven Tieren, Wölfen etwa, bei denen sich zwischen Retina und Lederhaut silbrige Plättchen befinden, sodass ihre Augen in der Lage sind, das Licht zu verstärken. Sacher hatte denselben silbrigen Blick … Sie war schon entschlossen, zu gehen, als er ihr vorschlug: »Wie wär’s, wenn Sie mir jetzt die Szene beschreiben, die Sie noch einmal erleben wollen?«
    Diane rief sich zur Vernunft. Sie dachte daran, wie sie wenige Stunden zuvor an Luciens Bett gesessen und ihren Entschluss gefasst hatte. Sie kauerte sich im Sessel zusammen und begann in bewusst ruhigem Ton: »Am Mittwoch, dem 22. September gegen Mitternacht, hatte ich mit meinem Adoptivsohn auf dem Boulevard Périphérique nahe der Porte Dauphine einen Autounfall. Mir ist nichts passiert, aber mein Sohn schwebte zwei Wochen lang zwischen Leben und Tod. Inzwischen sieht es so aus, als sei er außer Gefahr, aber …« Sie zögerte. »Ich würde mir gern die Minuten unmittelbar vor dem Unfall ins Gedächtnis zurückrufen«, fuhr sie schließlich fort. »Ich möchte jede Geste, jedes Detail noch einmal erleben. Ich möchte sicher sein können, dass ich keinen Fehler gemacht habe.«
    »Einen Fahrfehler?«
    »Nein – die Unfallursache war ein Lkw, der von der Spur abgekommen ist, ich kann nichts dafür. Aber … ich hatte etwas getrunken. Und ich möchte ganz sicher sein, dass ich das Kind angegurtet habe, dass die Schnalle wirklich geschlossen war.«
    Wieder verstummte sie. Dann sagte sie: »Ich muss hinzufügen, dass der Gurt beim Zusammenstoß nicht geschlossen war.«
    Sacher verschränkte die Finger auf der spiegelnden Fläche seines Schreibtisches und beugte sich vor. Seine Augen waren zwei symmetrische Glanzlichter.
    »Wenn er nicht geschlossen war, dann haben Sie ihn wohl nicht richtig einrasten lassen, oder?«
    »Ich weiß , dass ich den Gurt geschlossen habe. Aber ich muss mich vergewissern, und das möchte ich mit Ihrer Hilfe tun, unter Hypnose.«
    Der Arzt musterte sie nachdenklich. Zweifellos mit derselben Verwunderung, die Charles Helikian empfunden hatte.
    »Nehmen wir an, dass Sie das Kind angegurtet haben«, sagte er. »Wie erklären Sie sich, dass der Gurt zum Zeitpunkt des Unfalls offen war?«
    »Ich glaube, dass ihn jemand unterwegs geöffnet hat.«
    »Der Junge selbst?«
    Sie musste es aussprechen. Sie musste ihre Vermutung äußern. Leise sagte sie: »Ich denke an einen Mann. Einen blinden Passagier in meinem Wagen. Ich glaube, der Unfall wurde inszeniert, von langer Hand vorbereitet und in allen Einzelheiten ausgeführt.«
    »Meinen Sie das ernst?«
    »Tun Sie, als wäre es ein Scherz, und hypnotisieren Sie mich.«
    »Das ist doch absurd. Wer sollte so etwas inszenieren?«
    »Hypnotisieren Sie mich.«
    »Jemand soll das Risiko eingegangen sein, zum Zeitpunkt des Unfalls mit Ihnen im Wagen zu sitzen?«
    Diane begriff, dass sie so nicht weiterkam. Sie nahm ihre Sachen und stand auf.
    »Bleiben Sie«, wies er sie an.
    Mit einer höflichen Gebärde deutete er auf den Sessel. Er lächelte liebenswürdig, doch Diane erkannte, dass ihm nicht wohl bei der Sache war.
    »Setzen Sie sich«, sagte er. »Fangen wir an.«
     
     
     
KAPITEL 28
     
    Ihre erste Empfindung war Wasser.
    Ihr Geist schwamm in einer flüssigen Umgebung. Sie dachte an einen vergessenen Ballen Fracht, der im Bilgewasser des Laderaums trieb. An den Stein einer Frucht in zu weichem Fleisch. Sie schlingerte unter ihrer eigenen Schädeldecke.
    Ihre zweite Empfindung war, dass sie sich verdoppelt hatte.
    Als hätte sich ihr Bewusstsein in zwei getrennte Wesen gespalten, die sich gegenseitig beobachten konnten. Sie träumte – und konnte sich zusehen, wie sie träumte. Sie konzentrierte sich – und konnte sich von außen betrachten, wie sie sich konzentrierte.
    »Diane, hören Sie mich?«
    »Ja.«
    Mühelos und augenblicklich war sie in die Trance hinübergeglitten. Paul Sacher hatte sie aufgefordert, sich auf eine rote Linie an der Wand zu konzentrieren; dann

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