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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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darauf ab, geheimnisvolle Kräfte oder unbekannte Götter anzurufen, die sich von den unechten Reden und geborgten Gesten erweichen ließen.
    Im Erdgeschoss von Block A, dem sprach- und literaturwissenschaftlichen Gebäude der Universität Paris X-Nanterre, betrat Diane den Hörsaal 103 und begriff sofort, dass sie in einen dieser altertümlichen Tempel geraten war. Es war ein Raum von zwanzig Metern Länge, fensterlos, praktisch leer, bis auf mehrere Reihen von Klappstühlen, die zusammengefaltet rechts an der Wand lehnten. Im Hintergrund erhob sich eine von schwarzen Vorhängen umrahmte dunkle Bühne, auf der vereinzelte Requisiten in überstäubter Helligkeit herausleuchteten. Ein Tisch, ein Stuhl, unbestimmte Gebilde aus schwarzem Styropor, die einen Baum, einen Felsen, einen Hügel darstellen sollten.
    Es war zehn Uhr vormittags.
    Diesen Raum hatte ihr Isabelle Condroyer als Treffpunkt für ihre Unterredung mit Claude Andreas genannt, dem Experten für türkmongolische Sprachen.
    Sie ging auf eine Gruppe von Darstellern zu, die diskutierend vor der Bühne standen, und erkundigte sich nach dem Mann, den sie suchte. Er war unter ihnen: groß und hager, gekleidet in Rolli und Leggings, ganz in Schwarz. Diane fühlte sich an fein gerolltes Pergament erinnert, das womöglich unerforschliche alchimistische Geheimnisse enthielt. Mit ein paar Worten stellte sie sich vor.
    »Verzeihen Sie meine Aufmachung«, sagte Andreas lächelnd. »Wir proben gerade Warten auf Godot .«
    Dann deutete er auf einen Tisch am Rand und fuhr fort: »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen eine Karte der Gegend. Ihre Geschichte ist wirklich … unglaublich.«
    Sie nickte der Form halber. An diesem Morgen hätte sie allem Ja und Amen gesagt. Die wenigen Stunden Schlaf hatten nicht ausgereicht, um sie wieder zu ihren ureigenen Kräften zurückfinden zu lassen, dieser Mischung aus Aggressivität und Nervosität, die ihre verlässlichste Daseinsweise war.
    »Kaffee?«, bot der Mann an und hob eine Thermoskanne.
    Diane lehnte dankend ab. Andreas schob ihr einen Stuhl hin, schenkte sich eine Tasse voll und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, der aus einer aufgebockten Platte bestand. Sie musterte ihn. Sein Gesicht ließ sie an eine Kinderzeichnung denken: weit auseinander liegende türkisblaue Augen, eine aufmüpfige Nase, ein schmaler Mund, der eigentlich nur aus einem Strich bestand – und das Ganze gekrönt von einer üppigen graumelierten Mähne, nicht unähnlich dem Helm einer Playmobil-Figur.
    Er stellte seine Tasse ab und breitete die Karte aus. Die Ortsnamen waren in kyrillischen Buchstaben eingetragen. Er deutete auf eine Region ziemlich weit oben, nahe einer Grenzlinie.
    »Ich bin überzeugt, dass der Dialekt Ihres Kindes in dieser Gegend gesprochen wird, im Norden der Äußeren Mongolei.«
    »Isabelle Condroyer hat einen Volksstamm erwähnt, die Tsewenen …«
    »Nun – so eindeutig lässt sich das nicht sagen. Diese Gegend ist sehr schwer zugänglich und war fast ein Jahrhundert lang unter sowjetischer Herrschaft. Aber ich würde sagen, ja: Nach der Aussprache und dem Gebrauch bestimmter Wörter zu urteilen, haben wir es mit dem tsewenischen Dialekt zu tun. Er gehört zur Sprachgruppe der samojedischen Völker – nomadischen Rentierzüchtern, die vom Aussterben bedroht sind. Ich wundere mich, dass es überhaupt noch Tsewenen gibt. Wie kommt es, dass Sie ein tsewenisches Kind adoptieren konnten? Das ist in der Tat …«
    »Erzählen Sie mir diese Geschichte vom Wächter und der Jagd.«
    Andreas lächelte über ihren schroffen Ton. Er schien sich damit abzufinden, dass diesmal nicht er die Fragen stellte. Mit einer Handbewegung bat er für seine Indiskretion um Verzeihung, feierlich wie eine Figur aus dem Schattentheater.
    »Einmal im Jahr, im Herbst, veranstalten die Tsewenen eine große Jagd. Die Jagd unterliegt strengen Regeln. So müssen die Männer der Gruppe dem Aufklärer folgen, der ein Kind ist. Das Kind fastet und wacht die ganze Nacht hindurch, und im Morgengrauen macht es sich allein auf den Weg in den Wald. Erst jetzt setzen sich auch die Jäger in Marsch und folgen dem ›Wächter‹. Dem ›Lüü-Si-An‹ im tsewenischen Dialekt.«
    Diane nahm die Worte des Ethnologen nur noch am Rande war. Sie starrte auf die Karte. Grün. Eine unendliche Fläche Grün, hier und dort von den kleinen blauen Flecken der Seen unterbrochen. Das waren die flachen Steppen, die endlosen Fichtenwälder, die klaren Gewässer, die Lucien im Blut hatte.

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