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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Der Fötus nimmt die Gefühle seiner Mutter wahr. Dabei sind es bereits zwei getrennte Wesen. Die Schwangerschaft ist also sozusagen die Wiege der Telepathie.«
    Auf diesem physiologischen Gebiet fühlte Diane sich schon wohler. »Das stimmt nicht«, antwortete sie. »Was Sie als paranormale Übertragung bezeichnen, beruht in Wirklichkeit auf nachweisbaren körperlichen Grundlagen. Wenn eine schwangere Frau ein emotional aufwühlendes Erlebnis hat, werden bestimmte Hormone freigesetzt, Adrenalin zum Beispiel, die mit ihrem Blut auch zum Fötus gelangen. Während der Schwangerschaft kann man Mutter und Kind nicht als getrennt betrachten, im Gegenteil – sie stehen in ständigem Körperkontakt.«
    »So weit gebe ich Ihnen Recht. Aber nach der Geburt? Die Kommunikation hört ja nicht auf, Madame. Das ist eine erwiesene Tatsache. Die Mutter spürt die Bedürfnisse ihres Kindes in dem Augenblick, in dem es selbst sie empfindet. Die Verbindung ist nicht unterbrochen. Wie wollen Sie das nennen? Mutterinstinkt? Weibliche Intuition? Gewiss. Aber was ist denn Intuition überhaupt? Wo hört sie auf, und wo beginnt die Hellsichtigkeit? Ist die Beziehung zwischen Mutter und Neugeborenem nicht ebenfalls eine reine parapsychologische Kommunikation, die auf nichts anderem beruht als Liebe?«
    Diane merkte, wie sie anfing innerlich zu zerfallen. Diese Reden von der Beziehung zwischen Mutter und Säugling empfand sie als niederschmetternd. Gleichzeitig aber riefen sie eine seltsame Heiterkeit in ihr hervor. Sie hatte es ja selbst gespürt: War die Kommunikation mit Lucien je besser gewesen als in diesen verzauberten Augenblicken vollkommener Stille, in denen das Kind in ihren Armen schlief?
    »Sie sprechen schön, Monsieur Andreas, aber ich glaube nicht, dass ich hinsichtlich der Identität meines Adoptivsohns so viel weitergekommen bin, wie ich es mir gewünscht hätte.«
    »Sie werden ein großes Stück weiterkommen, sobald Lucien wieder bei Bewusstsein ist. Wenn er tatsächlich ein Wächter ist, wird er Sie von seiner Realität zu überzeugen wissen.«
    Diane verabschiedete sich und ging auf die Tür zu, ihre Kehle war wie zugeschnürt.
    »Warten Sie«, rief der Ethnologe ihr nach und fügte hinzu, während er auf sie zukam: »Mir ist plötzlich jemand eingefallen. Ein Mann, der Ihnen über Luciens psychische Besonderheiten vielleicht mehr sagen kann. Ich bin ein Idiot, dass ich nicht früher auf ihn gekommen bin. Er ist in der Gegend viel herumgereist. Eigentlich ist er sogar der Einzige. Ich muss gestehen, dass ich selbst nie dort war: Ich habe nur mit den Tonbandaufnahmen der damaligen politischen Deportierten, der Wissenschaftler im Gulag gearbeitet.«
    Andreas blätterte bereits in seinem Notizbuch nach der seltenen Perle. Er schrieb Namen und Adresse auf ein Stück kariertes Papier. »François Bruner heißt er. Er kennt die Tsewenen. Und die Parapsychologie.«
    Sie nahm den Zettel entgegen und las ihn. »Lebt er in einem Museum?«, fragte sie.
    »Ja, er ist der Konservator seiner eigenen Stiftung, in Saint-Germain-en-Laye. Er besitzt ein ungeheures Vermögen. Gehen Sie zu ihm. Er ist eine faszinierende Persönlichkeit. Der Besuch wird Sie höchstens ein paar Stunden kosten. Aber diese Stunden werden vielleicht den Rest Ihres Lebens erhellen.«
     
     
     
KAPITEL 32
     
    Es ging alles sehr schnell. Zuerst fuhr sie ins Krankenhaus, um Luciens neues Zimmer zu begutachten, dann vereinbarte sie ein Treffen mit dem Stiftungsverwalter, der ihren Anruf herzlich und interessiert entgegennahm: François Bruner schien von der Anwesenheit eines tsewenischen Wächters in Frankreich sehr angetan. Außerdem konnte er offenbar kaum erwarten, seine Erinnerungen und seine Kenntnisse über eine Region mitzuteilen, die er als einer von sehr wenigen Europäern durchkämmt hatte. Man verabredete sich für den selben Tag um neunzehn Uhr.
    Diane schätzte die Fahrt nach Saint-Germain-en-Laye, einem Vorort westlich von Paris, auf etwa eine Stunde, und machte sich vorsichtshalber schon um halb sechs auf den Weg. Sie durchquerte Neuilly, umrundete das Viertel Défense auf dem Boulevard Circulaire und bog auf die Nationalstraße 13 ein, eine endlose, gerade Strecke, die sie zu ihrem Ziel führen würde.
    Während sie fuhr, dachte sie nicht mehr an das Geheimnis um Luciens Herkunft und ihre Nachforschungen, sondern grübelte immer noch über die Worte von Claude Andreas und über das Weltbild nach, das darin zum Ausdruck kam. Diane Thiberge,

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