Der steinerne Kreis
Naturwissenschaftlerin. Ich kann in Koinzidenzen dieser Art keinen tieferen Sinn erblicken …«
»Eben, Sie sind Naturwissenschaftlerin, und deswegen wissen Sie, dass es eine Schwelle gibt, an der aus Zufällen Wahrscheinlichkeiten werden. Und eine weitere Schwelle, an der die Wahrscheinlichkeiten zu Axiomen werden. Ich beschäftige mich schon lange mit solchen Fragen. In Europa, in den Vereinigten Staaten, in Japan gibt es heute wissenschaftliche Labors, in denen diese Grenzen regelmäßig überschritten und parapsychologische Erfahrungen wie Telepathie, Hellsehen, Präkognition zuverlässig wiederholt werden. Sicher haben Sie davon gehört.«
Diane fing den Ball im Flug: »Das stimmt. Aber die methodische Exaktheit der Testprotokolle ändert nichts daran, dass die Analyse der Ergebnisse anfechtbar ist.«
»Ja, das ist die Auffassung der meisten Wissenschaftler. Weil die Konsequenz, die sich notwendigerweise aus diesen Ergebnissen ergibt, zu einschneidend wäre. Die konkrete Realität solcher Anomalien zuzugeben hieße ja, die moderne Physik und den gegenwärtigen Stand unseres Wissens in Frage zu stellen.«
»Das ist reine Spekulation …«
»Nein, und das wissen Sie. Wir sprechen von den verborgenen Fähigkeiten des Menschen. Wir sprechen von Begabungen, die bei Ihrem Kind vielleicht sehr viel ausgeprägter sind als bei anderen. Von Begabungen, die den normalen Gesetzen des sinnlich erfassbaren Universums widersprechen.«
Sie hatte kein Bedürfnis, sich auf neue Abgründe einzulassen. Aber irgendeine Macht trieb sie unaufhaltsam in diese Richtung, und eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass es bei der ganzen Geschichte vielleicht um nichts anderes ging als um eben diese Fähigkeiten …
In gleichmütigem Ton fuhr Andreas fort: »Sehen wir uns die Sache noch einmal aus einem anderen Blickwinkel an. Sie sind Ethologin, nicht wahr? Sie befassen sich also mit der Wahrnehmungsweise der verschiedenen Tiere.«
»Ja, und?«
»Lange Zeit war uns die Wahrnehmung vieler Tiere rätselhaft, völlig unverständlich, weil unser Wissen von den anatomischen Strukturen beschränkt war und wir die morphologischen Voraussetzungen der Wahrnehmung also nicht kannten. Die Orientierung der Fledermäuse im Dunkeln war uns ein Rätsel bis zu dem Tag, an dem wir den Ultraschall entdeckten, mit dem sich die nachtaktiven Tiere im Raum zurechtfinden. Für jede Wahrnehmungsweise gibt es eine physikalische Erklärung. Daran ist nichts Übernatürliches.«
»Sie erzählen mir nichts Neues, das gehört zu meinem Beruf. Ich sehe nicht den Zusammenhang mit den angeblichen außer- oder übersinnlichen Fähigkeiten des Menschen …«
»Wer sagt Ihnen denn, dass wir schon alles über unseren Wahrnehmungsapparat wissen?«
»Der berühmte sechste Sinn …«, sagte Diane grinsend und stand auf. »Tut mir leid, Monsieur Andreas: Ich glaube, wir verschwenden hier nur unsere Zeit.«
Der Ethnologe stand ebenfalls auf und trat ihr auf beinahe unmerkliche Weise in den Weg. »Und wer sagt Ihnen«, fragte er weiter, »dass die Kinder, von denen wir sprechen, nicht eine Eigenschaft besitzen, die uns abhanden gekommen ist?«
»Was für eine Eigenschaft?«
Er lächelte vielsagend.
»Unschuld«, antwortete er.
Diane wollte ein Hohngelächter anstimmen, doch es blieb ihr im Hals stecken.
»In den Labors, von denen ich Ihnen erzählt habe«, fuhr Claude Andreas fort, »wurden die besten Ergebnisse nachweislich bei den allerersten Tests erzielt, und am besten schnitten die Kinder ab. Wegen ihrer Spontaneität.«
»Das heißt?«
»Dass unsere Vorurteile das Haupthindernis für das Auftreten unserer übersinnlichen Fähigkeiten sind. Skepsis, Materialismus, Indifferenz stellen eine regelrechte Verschmutzung dar, Schlacken, die den Geist beschweren und ihn daran hindern, seine ganze Macht zu entfalten. Ein Sportler, der von seiner Kraft nicht überzeugt ist, startet als Verlierer. Genau so funktioniert unser Bewusstsein. Ein Skeptiker wird seine wahren geistigen Fähigkeiten niemals voll ausschöpfen.«
Von heftigen Zweifeln geplagt, umrundete sie seine lange Gestalt und wandte sich zum Gehen.
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«, fragte er.
»Ich habe Lucien.«
»Ich meine: Sie haben kein Kind geboren.«
Sie wandte den Kopf ab, damit er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie.
»Alle Mütter werden Ihnen betätigen, dass sie während der Schwangerschaft mit ihrem ungeborenen Kind kommunizieren.
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