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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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fragte Isabelle Condroyer.
    »Ja, ich höre Sie.«
    »Es ist unglaublich«, fuhr die Ethnologin fort, und in ihrer Stimme schwang die Aufregung mit. »Laut Auskunft des Experten, den ich zu Rate gezogen habe, handelt es sich dabei um einen sehr seltenen Dialekt, den nur noch eine verschwindende Minderheit spricht, die Tsewenen.«
    Diane war stumm wie ein Grab. Wieder fragte Isabelle Condroyer: »Hören Sie mich, Diane? Offen gestanden, ich hätte mir ein bisschen mehr Begeisterung erwartet …«
    »Doch, doch, ich höre.«
    »Da sind ja diese beiden Silben, lü und sian , die der Junge auf der Kassette ständig wiederholt. Mein Kollege hat hier keinen Zweifel: Die beiden Phoneme bilden einen in der tsewenischen Kultur sehr wichtigen Begriff. Die Silben lü und sian bedeuten ›Wächter‹.«
    »Wächter …?«
    »Es ist ein sakraler Begriff. Er bezeichnet einen Erwählten. Ein Kind, das die Rolle des Vermittlers zwischen seinem Volk und den Geistern spielt, vor allem in der Jagdsaison.«
    »In der Jagdsaison«, wiederholte Diane in neutralem Ton.
    »Ja. In dieser Zeit führt das Kind sein Volk. Es heischt um die Gunst der Geister und deutet deren Botschaften im Wald. Zum Beispiel ist es fähig, die Gebiete zu erkennen, die für das Einfangen von Tieren besonders günstig sind. Das Kind geht voraus, und die Gruppe der Jäger folgt in gebührendem Abstand. Der Wächter ist sozusagen ein Aufklärer, ein Pfadfinder im spirituellen Sinn.«
    Diane streckte sich auf dem Bett aus. An der Wand gegenüber hingen die pastellfarbenen Drucke von Paul Klee – weit, sehr weit entfernt, dort, wo das normale, gefahrlose Leben war. Die Ethnologin schien sich über ihr Schweigen zu wundern, und nach ein paar Sekunden fragte sie: »Ist das ein Problem?«
    Den Hinterkopf in der Flut ihrer offenen Haare vergraben, antwortete Diane: »Ich wollte ein thailändisches Waisenkind adoptieren. Eine Familie gründen mit einem kleinen Jungen, der bei seiner Geburt kein Glück gehabt hatte. Stattdessen stellt sich heraus, dass ich einen türkmongolischen Schamanen aufgenommen habe, der die Waldgeister belauscht. Sehen Sie da irgendein Problem?«
    Isabelle Condroyer seufzte. Sie war hörbar enttäuscht, dass ihr sensationeller Erfolg nicht so aufgenommen wurde, wie sie erwartet hatte, und kehrte zu ihrem doktoralen Ton zurück: »Offensichtlich hat das Kind lange genug bei seinem Volk gelebt, um sich seine Rolle anzueignen. Zumindest den Namen der Rolle. Das ist in der Tat außergewöhnlich. Der Ethnologe, der die Kassettenaufnahme entschlüsselt hat, würde Sie gern kennenlernen. Wann können Sie ihn treffen?«
    »Ich weiß nicht. Ich rufe Sie morgen früh an. Auf Ihrem Funktelefon.«
    Sie verabschiedete sich kurz angebunden und legte auf. Dann drehte sie sich zur Wand und rollte sich zusammen. Düstere Visionen stürmten auf sie ein. Sie fühlte sich von Schatten umzingelt, sah Gestalten in Strahlenschutzkleidern, die im Regen standen und sie beobachteten, ihr folgten. Wer waren sie? Warum wollten sie Lucien, den kleinen »Wächter«, beseitigen? Welche Verbindung bestand zwischen einem Schamanenkind und einem Kernreaktor?
    Um die verworrenen Bilder zu verscheuchen, besann sie sich auf Verbündete. Sie versuchte das Gesicht von Patrick Langlois heraufzubeschwören, aber es erschien nicht. Sie rief sich den Arzt Eric Daguerre in Erinnerung – vergebens. Sie flüsterte den Namen Charles Helikian vor sich hin, doch er hatte kein Echo in ihrem Geist. Sie fühlte sich allein, verzweifelt allein. Doch im selben Moment, als der Schlaf sie übermannte, wusste sie plötzlich eines: Irgendwo auf der Welt musste es jemanden geben, der ihren Alptraum teilte.
     
     
     
KAPITEL 31
     
    Sie hatte einmal – aus dem Versuch heraus, ihre Schüchternheit zu überwinden und mit anderen in Kontakt zu treten – einen Theaterkurs belegt. Die Mühe war vergeblich. Was sie allerdings aus dieser Zeit zurückbehalten hatte, war eine merkwürdige Sehnsucht nach allem, was mit Schauspielerei zu tun hatte. Sie erinnerte sich an die nach Sägemehl und Staub riechenden Kulissen, an die ein wenig beunruhigende Atmosphäre des abgedunkelten Saals, wo auf einer beleuchteten Bühne Schauspielschüler Sophokles und Feydeau deklamierten, praktisch in ein und demselben Tonfall. Sie erinnerte sich an das aufmerksame Mitgefühl der übrigen Eleven, die in atemlosem Schweigen die Bemühungen ihrer Kollegen verfolgten. Es lag etwas Okkultes und Rituelles darin. Als zielten die Proben

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