Der steinerne Kreis
transparente Material erkannte sie die Umrisse eines sehr mageren Mannes. François Bruner? Mit zitternder Hand zog sie an dem Vorhang, der zu Boden glitt und den Körper in seiner Nacktheit preisgab.
Der Mann lag ausgestreckt, die Arme vor der Brust gekreuzt, in derselben Position wie die steinernen Ritter des Mittelalters auf ihren Sarkophagen in der Kirche. Und darin erschöpfte sich der Vergleich noch nicht: Dieser ausgezehrte alte Körper, dessen Knochen sich durch die Haut bohrten, schien mit der symmetrischen Dekoration des Badezimmers in derselben ästhetischen Verbindung, demselben stillschweigenden Einverständnis zu stehen, wie die in Stein gehauenen Ritter mit der gotischen Architektur eine zeitlose Feierlichkeit teilten.
Aber dieser Tote schälte sich – im wahrsten Sinn des Wortes. Von seinem Körper hingen winzige Häutchen herab, und darunter kam eine neue, rötliche Haut zum Vorschein. Diane bemühte sich, den letzten Rest an Kaltblütigkeit zu bewahren, der ihr geblieben war, trat näher und erlebte einen weiteren Schock: Jetzt, wo sie nur noch ein Meter von der Leiche trennte, konnte sie sehr deutlich den Oberkörper sehen – und den feinen Einschnitt im Fleisch knapp unterhalb des Brustbeins.
François Bruner war auf dieselbe Weise umgebracht worden wie Rolf van Kaen.
Was bedeutete das? Wer hatte die Hinrichtung vorgenommen? Die drei Killer mit ihren Sturmgewehren? Das kam ihr unwahrscheinlich vor; es war nicht ihr Stil. Und wozu hatten sie den Toten anschließend auf diesen Marmorblock gelegt wie auf einen Opferstein?
Während sie zurückwich, fiel ihr auf, was ihr schon von Anfang an hätte auffallen müssen – das Gesicht des alten Mannes. Die kahle Stirn. Die steinernen Wangenknochen. Die schweren Lider.
Das war der Mann mit dem Strahlenschutzparka.
Der Mann, der vor drei Wochen versucht hatte, sie beide umzubringen, sie und ihren Sohn.
KAPITEL 35
Außer dem Bett enthielt das Krankenhauszimmer keinerlei Mobiliar. Der Raum lag im Dunkeln. Ausgestreckt auf dem Rücken, einen Arm über dem Gesicht, konnte Diane Thiberge in dem Licht, das durch den Schlitz unter der Tür hereindrang, nur die Füße des Polizisten erahnen, der draußen Wache stand. Sie sah auf die Uhr. Sechs Uhr morgens. Also hatte sie die ganze Nacht geschlafen. Sie schloss wieder die Augen und dachte an den Vorabend zurück.
Genau in dem Moment, in dem sie in dem Badezimmer aus Jade und Bronze den Mann mit der Schlangenhaut wiedererkannt hatte, waren draußen im Park blinkende Blaulichter aufgetaucht. Die Polizei. Diane empfand augenblicklich eine merkwürdige Erleichterung: Es war das Erste, was an diesem Abenteuer rational war. Es gab also doch ein Alarmsystem. Die Gemälde waren geschützt – mussten ja geschützt sein! –, und der Kampf in den Museumsräumen hatte im Kommissariat von Saint-Germain-en-Laye Alarm ausgelöst. Dann fielen ihr die drei Leichen ein, die Fingerabdrücke, die sie auf den Waffen hinterlassen hatte, und sie zweifelte, ob jemand ihr abkaufen würde, dass sie allein es fertiggebracht hatte, drei Killer, die mit Sturmgewehren und Messern bewaffnet waren, unschädlich zu machen. Vielleicht ließ sich ein Geständnis vermeiden. Schließlich hatte sie die drei ja mit ihren eigenen Waffen aus dem Weg geschafft …
Unter großen Mühen war sie in den Saal mit den Kompositionen zurückgekehrt und hatte Waffen und Leichen entsprechend den Flugbahnen der abgefeuerten Kugeln verteilt. Außerdem hatte sie ihre Brille wiedergefunden: unversehrt. Die Tatsache, dass sie wieder scharf sehen konnte, half ihr, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie zog den Männern die Handschuhe aus und drückte jedem eine Pistole in die Hand, die sie zuvor abgewischt hatte. Als die Polizisten ins Museum eindrangen, fanden sie zwischen Leichen und Mondrian-Bildern eine einsame Frau vor, die erschöpft auf dem Boden lag.
Danach ging alles ganz einfach. Im Wagen brauchte sie sich nur so zu geben, wie sie sich tatsächlich fühlte. Die ermittelnden Beamten hatten sich ihre Fragen praktisch selbst beantwortet und waren zu dem Schluss gelangt, dass die drei Männer sich nach dem Überfall auf sie gegenseitig umgebracht hatten. Interessanterweise schien die Polizei überzeugt, dass Diane nicht das Ziel des Angriffs gewesen war. Sie widersprach nicht, doch sie ahnte, dass die Polizisten die Mörder bereits identifiziert hatten.
Der Dienst habende Arzt in der Klinik von Vésinet-Le-Pecq hatte sie beruhigt:
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