Der steinerne Kreis
asketische Abstraktionen gemalt, die ein strenges Kompositionsschema mit Flächen aus reiner Farbe kombinierten. Die Kunsthistoriker pflegten von einem »Bruch« in seinem Werk zu sprechen, doch dieser Meinung konnte sich Diane nicht anschließen: Für sie bedeuteten diese Bilder im Gegenteil eine natürliche Wandlung. Nach der glühenden Begeisterung der ersten Jahre hatte der Künstler auf dem Grund seiner Landschaften aus Erde und Feuer die Quintessenz seiner Malerei gefunden – die perfekte Geometrie von Linie und Farbe.
Staunend ging Diane weiter, ohne sich um die Absurdität der Situation zu kümmern: Da stand sie ganz allein in einem privaten Museum, in dem sie eigentlich einen Experten für türkmongolische Völker treffen sollte, schlenderte unbeaufsichtigt und zwanglos zwischen Gemälden umher, von denen jedes mehrere Millionen wert war. Sie betrat einen weiteren Saal, schon in der Erwartung der berühmten Boogie-Woogies , der letzten Werke, die Mondrian in New York geschaffen hatte, und …
Ein Rascheln ließ sie herumfahren.
Im vorhergehenden Saal erblickte sie zwei Gestalten. Zuerst vermutete sie Museumswärter, doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Die beiden schwarzgekleideten Männer trugen Nachtsichtgeräte und ein Sturmgewehr, das mit einem Laserpointer ausgestattet war. Eine jähe Gewissheit durchfuhr sie: Das waren die Komplizen des Mörders vom Périphérique. Sie waren ihr bis hierher gefolgt und würden sie jetzt, in diesem Museumssaal, ermorden.
Sie sah sich um. Keine Tür, kein Ausweg. Die Männer kamen langsam näher. Diane wich zurück. Ihre Waffen entsandten einen roten Lichtstrahl. Absurderweise kam ihr auf einmal die Schönheit der Szene zu Bewusstsein: die Gemälde im bläulichweißen Licht des Mondes, die beiden Angreifer mit ihrem Skarabäusblick, die granatroten Lichtpunkte über dem Gewehrlauf, die sternförmige Linien in die kreidige Dunkelheit ritzten.
Sie empfand keinerlei Angst. Schon nahm ein anderer Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an: Seit fünfzehn Jahren hatte sie insgeheim auf eine Konfrontation dieser Art gewartet. Das war ihre Stunde der Wahrheit. Die Gelegenheit, zu beweisen, dass sie nicht mehr das verwundbare kleine Mädchen von Nogent-sur-Marne war. Sie sah wieder die Weidenbäume vor sich, die Lichter hinter Glas, spürte die feuchte Erde an ihren Schenkeln. Die beiden Gestalten kamen näher. Sie waren nur noch ein paar Meter entfernt.
Noch ein Schritt.
Sie sah die eine behandschuhte Hand auf den Abzug drücken.
Es war zu spät.
Für die beiden.
Sie sprang vor und schlug mit der Handkante zu – sao fu shu . Der eine Mann wurde direkt an der Kehle getroffen und brach zusammen. Der andere richtete sein Gewehr auf sie, doch sie war schon herumgefahren, das Bein gestreckt zu einem Tritt mit umgedrehtem Fuß. Der Mann wurde nach hinten geschleudert. Sie hörte das plopp der Waffe mit Schalldämpfer, als der Schuss losging. Unmittelbar danach war alles still. Nichts rührte sich. Am ganzen Leib zitternd trat sie zu den reglosen Körpern.
Ein metallischer Schlag warf sie um, und eine Welle des Schmerzes durchfuhr sie. Sie versuchte sich aufzurichten, als sie ein neuerlicher Schlag ins Gesicht traf. Ihre Brille flog davon, ihr Mund füllte sich mit Blut. Sie brach zusammen und begriff zu spät, dass sich im toten Winkel des Raums ein dritter Mann aufgehalten hatte. Die Schläge prasselten auf sie nieder. Geballte Fäuste, Stiefeltritte, Kolbenhiebe. Die beiden anderen hatten sich wieder aufgerappelt und beteiligten sich an der Bestrafung. Mit erhobenen Armen versuchte Diane ihren Kopf zu schützen und hatte nur einen Gedanken: Der Nasenring – sie werden mir den Nasenring ausreißen! Wie zur Antwort spürte sie es heiß über ihre Lippen herabrinnen. Sie krümmte sich zusammen, um ihre Nase zu befühlen, und ertastete die aufgerissene Haut, das gespaltene Fleisch. Das besiegte ihren letzten Widerstand: Sie kauerte sich zusammen und zuckte nicht einmal mehr unter den Schlägen.
Die Männer legten eine kurze Atempause ein. Sie versuchte sich fortzubewegen, eine Hand ausgestreckt, um nach der Mauer zu tasten, doch so weit kam sie nicht. Ein eisenbeschlagener Schuh traf sie mitten in die Rippen und nahm ihr die Luft. Sie glaubte zu ersticken. Raum und Zeit waren aufgehoben, atemringend schwebte sie in absoluter Leere, dann brach sie auf dem Boden zusammen und spürte, wie sie sich krampfartig übergab. Eine behandschuhte Faust packte sie an den Haaren und
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