Der steinerne Kreis
Sie hatte lediglich Prellungen davongetragen, und der Schmerz im linken Knöchel war nur eine Verstauchung. Die einzigen gravierenden Verletzungen waren durch ihr Piercing verursacht worden: Der goldene Ring hatte den rechten Nasenflügel aufgerissen, und was den Dorn in ihrem Nabel betraf, so war ein halbstündiger chirurgischer Eingriff unter örtlicher Betäubung erforderlich, um ihn wiederzufinden.
Dann hatte man ihr Beruhigungstropfen verabreicht und sie in diesem Zimmer untergebracht. Sie war sofort eingeschlafen, und in ihrer Benommenheit, die von den Schmerzmitteln herrührte, hatte sie jetzt das Gefühl, im Raum zu schweben, frei und völlig schmerzfrei. Gleichwohl empfand sie eine geistige Klarheit, so intensiv, dass sie ihr beinahe unwirklich erschien. Und mit dieser wiedergefundenen Schärfe des Verstands war sie in der Lage, einige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Am 22. September 1999 hatte François Bruner, Konservator der Stiftung Bruner, Weltreisender und Experte für das Volk der Tsewenen und für Parapsychologie, einen Mordversuch an Lucien unternommen, indem er gemeinsam mit seinen Komplizen einen Unfall auf der Pariser Stadtautobahn inszeniert hatte.
Am 5. Oktober 1999 hatte Rolf van Kaen, Chefarzt für Anästhesie in der Kinderchirurgie des Berliner Krankenhauses Charité, an Lucien heimlich eine Behandlung vorgenommen, in der Hoffnung, ihn mit der Technik der Akupunktur zu retten.
Diese beiden Männer wussten etwas über Lucien, das Diane verborgen war – und vielleicht war es eben die geheime Macht, die den einen veranlasste, das Kind zu vernichten, und den anderen, es zu retten.
Aber worin bestand diese Macht? Diane schob die Frage beiseite, auf die es keine Antwort gab, und wandte sich ihrer letzten Schlussfolgerung zu. Vielleicht der schrecklichsten.
Es gab noch einen Mörder.
Der Mann, der in der Nacht des 5. Oktober 1999 in der Küche des Krankenhauses Rolf van Kaen ermordet hatte, indem er ihm die Aorta zudrückte. Der Mann, der mit derselben Methode François Bruner umgebracht hatte, am 12. Oktober 1999, zweifellos nur wenige Stunden, bevor sie selbst im Museum eingetroffen war.
Die Tür wurde aufgesperrt, und in einem Glorienschein aus Morgenlicht kamen zwei uniformierte Polizisten herein. Hinter ihnen tauchte eine hohe Gestalt auf. Diane griff nach ihrer Brille. Sie erkannte den schwarzen Pullover, die Haare wie Putzwolle. Patrick Langlois wirkte noch unwirscher als sonst.
Beim Anblick von Dianes blutunterlaufenem Gesicht stieß er einen bewundernden Pfiff aus, dann sagte er in drohendem Ton: »Vielleicht wär’s allmählich an der Zeit, mit dem Blödsinn aufzuhören?«
KAPITEL 36
Als sie im Wagen saß, bestand ihr erster Handgriff darin, die Sonnenblende herunterzuklappen und ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten. Ein blauvioletter Bluterguss zog sich von ihrer linken Schläfe bis zum Kinn herab, und die Wange war angeschwollen, allerdings nicht genug, um ihre markanten Züge zu deformieren. Das linke Auge war blutunterlaufen und wirkte merkwürdig gläsern, wie künstlich. Und was ihre Nase betraf, so waren die Fäden und bräunlichen Krusten unter einem blutstillenden Pflaster verborgen. Sie hatte mit Schlimmeren gerechnet.
Ohne ein Wort fuhr Langlois los und reihte sich in den morgendlichen Verkehrsstrom ein. In der Eingangshalle der Klinik hatte er ihr wegen ihres Leichtsinns und ihres Alleingangs ausgiebig die Leviten gelesen, und Diane hoffte, dass die Sache damit erledigt war – ihr Kopfweh ertrug keine weiteren Standpauken. Doch an der ersten roten Ampel entnahm er seinem Aktenordner einen Stoß Papiere und legte ihn ihr in den Schoß.
»Lesen Sie das.«
Diane senkte nicht einmal den Blick. Nach ein paar Minuten fragte er, ohne den Verkehr aus den Augen zu lassen: »Was ist denn jetzt schon wieder?«
Sie starrte unverwandt auf die Straße.
»Ich kann im Auto nicht lesen. Davon wird mir schlecht.«
Langlois knurrte in sich hinein, sichtlich entnervt von ihren Schrullen.
»Okay«, seufzte er schließlich, »dann sag ich’s Ihnen. Das ist die Akte zu Ihrem Phantombild.«
»François Bruner?«
»In Wirklichkeit hieß er Philippe Thomas. Bruner war ein Deckname. Wie das bei Spionen so üblich ist.«
»Bei Spionen?«
Er räusperte sich, den Blick nach wie vor auf die Straße geheftet. »Als wir das Bild in unsere elektronische Kartei eingegeben haben, kam sofort etwas heraus, und zwar von der DST, der Spionageabwehr. François Bruner
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