Der steinerne Kreis
allerersten Theorie zurück. Eine Geschichte, die aus dem Kalten Krieg stammt. Eine Abrechnung. Oder ein Fall von Wirtschaftsspionage. Das erscheint mir jetzt umso wahrscheinlicher, seitdem ich mich mit diesem Forschungsreaktor beschäftigt habe …«
»Dem Tokamak?«
»Ja. Soweit ich verstanden habe, ist die Kernfusion noch keine wirtschaftlich rentable Technik, aber sie ist vielversprechend – die Zukunft der Kernenergie.«
»Wieso?«
»Weil unsere gegenwärtigen Kernkraftwerke, die mit Kernspaltung arbeiten, Uran verbrauchen, und das ist ein begrenzter Rohstoff. Bei der kontrollierten Kernfusion hingegen werden leichte Atomkerne miteinander verschmolzen und bilden schwerere Kerne, und dazu kann man zum Beispiel Wasserstoffatome aus dem Meer verwenden. Und Meerwasser ist natürlich eine unerschöpfliche Energiequelle.«
»Und?«
»Na, stellen Sie sich vor – dabei geht es um weltweite Interessen und enorme Summen. Ich bin überzeugt, dass es sich bei diesem Fall um irgendwelche Geheimnisse des Tokamak dreht. Van Kaen hat dort gearbeitet. Thomas ist auf seinen Reisen durch die Mongolei mit Sicherheit dort vorbeigekommen. Und eben erfahre ich, dass der damalige Leiter des TK 17, Jewgenij Talich, 1978 ebenfalls in den Westen übergelaufen ist. Und sich in Frankreich niedergelassen hat, mit dem Segen von Thomas!«
»Mir wird das allmählich zu kompliziert.«
»Das ist für jeden kompliziert. Aber eins steht fest: Sie sind alle da.«
»Wer ›sie‹?«
»Die ehemaligen Mitarbeiter des Forschungsreaktors. In Frankreich oder jedenfalls in Europa. Ich habe eine internationale Suche nach Jewgenij Talich veranlasst. Er hat in den wichtigsten Forschungszentren für kontrollierte Kernfusion gearbeitet, die in den achtziger Jahren in Frankreich entstanden sind. Heute ist er pensioniert. Wir müssen ihn so bald wie möglich ausfindig machen. Andernfalls würde ich mich nicht wundern, wenn wir irgendwo seine Leiche entdecken, mit gesprengtem Herzen.«
»Aber … wieso werden diese Leute umgebracht? Und warum auf diese Weise?«
»Keine Ahnung. Nur eines weiß ich mit Sicherheit: Die Vergangenheit taucht wieder auf. Eine Vergangenheit, die nicht nur diese Morde nach sich zieht, sondern auch die damaligen Wissenschaftler zwingt, in die Mongolei zurückzukehren.«
»Wie das?«, fragte Diane überrascht.
Langlois zog eine weitere Fotokopie hervor. »Diese Notizen haben wir bei Thomas gefunden: die Flugzeiten aller Maschinen nach Moskau und in die Mongolische Republik. Auch er wollte in die Mongolei fliegen. Wie van Kaen.«
Diane spürte, wie die Wirkung der Schmerzmittel nachließ. Auch ihre Sorgen kehrten zurück. »Und mein Adoptivsohn?«, fragte sie. »Was hat er mit dem Ganzen zu tun?«
»Dieselbe Antwort: keine Ahnung. Ich habe aufs Geratewohl bei der Stiftung nachgeforscht, durch die Sie Lucien adoptiert haben …«
Diane zuckte zusammen. »Und was haben Sie herausgefunden?«
»Nichts. Sie sind weiß wie Schnee. Meiner Ansicht nach wurde das alles ohne Wissen der Heimleitung inszeniert. Ich glaube, der Junge wurde einfach in der Nähe des Waisenhauses ausgesetzt, damit sie ihn dort finden und aufnehmen sollten.«
Langlois schwenkte jäh nach links auf die Überholspur. Er schaltete in einen anderen Gang und fuhr energisch in einen Tunnel, in dem in regelmäßigen Abständen große Turboventilatoren aufgehängt waren. Diane war sich ihrer Hypothesen keineswegs mehr sicher. Vielleicht hatte sie alles falsch interpretiert. Vielleicht hatte die Sache gar nichts mit Luciens vermeintlichen Kräften zu tun, sondern drehte sich um irgendwelche Fragen der Kernphysik.
Doch wie um ihren Gedanken zu widerlegen, kam Langlois noch einmal auf die Parapsychologie zurück: »Da ist noch etwas im Zusammenhang mit Philippe Thomas, das mich plagt … Anscheinend verfügte der Psychologe auch über übersinnliche Fähigkeiten.«
Diane hielt den Atem an. »Nämlich?«, fragte sie.
»Etlichen Zeugenaussagen zufolge konnte er mit reiner Willenskraft Gegenstände in Bewegung versetzen und Metall verbiegen und so weiter. Uri-Geller-Tricks. Die Spezialisten nennen das Psychokinese. Meiner Ansicht nach war Thomas einfach ein geschickter Manipulator, eine Art Zauberkünstler …«
»Moment bitte. Sie meinen, er konnte allein durch Geisteskraft Materie beeinflussen?«
Der Polizist warf ihr einen belustigten Blick zu. »Ich hätte gedacht, das amüsiert Sie eher. Als Naturwissenschaftlerin sollten Sie …«
»Antworten Sie mir
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