Der steinerne Kreis
riss sie herum, bis sie mit den Schultern auf dem Betonboden lag. Der Mann zückte ein Messer aus einem Etui, das er sich ans Bein geschnallt hatte. Die gezahnte Schneide kam näher, blitzte im Mondlicht auf. Dianes letzter Gedanke galt Lucien. Sie bat ihn um Verzeihung. Dafür, dass sie ihn nicht hatte schützen können. Dass sie sein Geheimnis nicht verstanden hatte. Dass sie nicht am Leben geblieben war, um ihm all die Liebe zu schenken, die …
Ein Schuss fiel.
Dumpf, knapp, schallgedämpft.
Der Ausdruck der Augen unter dem Nachtsichtgerät veränderte sich.
Das Gesicht vor ihr sank herab, erstarrte.
Wieder fiel ein Schuss.
Der Mörder krümmte sich zusammen, der geöffnete Mund bekundete Verblüffung.
Diane brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie selbst geschossen hatte. Während sie im Geist ihr Gebet sprach, hatte ihr lebenshungriger Körper einen Ausweg gefunden. Ihre Hände hatten gesucht, getastet, die Automatikpistole entdeckt, die der Mörder im Gürtel trug. Mit dem Daumen hatte sie die Lasche des Etuis angehoben, in dem die Waffe steckte, hatte die Pistole herausgezogen, auf den Mann gerichtet und abgedrückt.
Sie schoss noch einmal.
Der Körper zuckte heftig und fiel schwer auf sie nieder, während sie sich bereits verlagerte, den Arm ausgestreckt, um auf die beiden anderen Gegner zu zielen. Sie waren verschwunden. Nur für einen Moment sah sie die beiden Laserpointer im Saal der Kompositionen aufblitzen. Sie schob die Leiche beiseite, griff nach dem Sturmgewehr und hastete quer durch den Raum. Sie drückte sich in einen toten Winkel, das Gewehr an die Brust gepresst. Trotz ihres Schockzustands, trotz ihrer blutgetränkten Kleider spürte sie, wie sich ihr Körper zu einem einzigen großen Willen formierte: Sie würde sich nicht unterkriegen lassen.
Aufmerksam spähte sie in den anderen Raum hinüber und hatte einen Geistesblitz.
Die Bilder.
Die Bilder würden ihr das Leben retten.
Sie hatte selbst schon Restlichtaufheller verwendet, um das nächtliche Verhalten der Raubkatzen in der afrikanischen Savanne zu beobachten: Diese Apparate tauchten das Blickfeld in ein grünes Licht, in dem sich Farben kaum unterscheiden ließen. Sie dachte an die Laserpointer, diese roten Visierlinien, die erst fixiert werden mussten, ehe die Mörder abdrücken konnten, und die in diesem grünen Schimmer gewiss nicht sehr präzise zu erkennen waren. Wenn es ihr gelang, die Eindeutigkeit der Lichtstrahlen zu unterwandern, indem sie ausschließlich an den roten Bildern vorüberhuschte, konnte sie ein paar Sekunden herausschinden, in denen sie es vielleicht schaffte, den Saal zu durchqueren.
Ohne einen weiteren Gedanken sprang sie los. Sofort sah sie die beiden Strahlen auf sich zukommen und an ihr vorübergleiten – wie sie erwartet hatte, lauerten die Mörder zu beiden Seiten der Tür. Sie steuerte die Komposition Nr. 12 an, auf der ein großes rotes Quadrat prangte, dann stürzte sie weiter zur einer Komposition mit Rot, Gelb und Grau . Sie sah die beiden blutroten Punkte herumschwenken, blitzschnell, wie grausame Fliegen. Sie rannte weiter. Die Technik funktionierte. Die Mörder sahen nichts. Sie huschte an den Rottönen des folgenden Gemäldes vorüber und war an der Schwelle zum nächsten Saal. Geschafft.
In dem Moment rutschte sie aus. Ihr Kopf schlug auf dem Boden auf, unter ihrer Schädeldecke explodierte ein Feuerwerk. Ein stechender Schmerz durchbohrte ihren Knöchel. Augenblicklich drehte sie sich um: die Mörder waren ihr auf den Fersen. Sie stützte sich seitlich auf, klemmte sich das Gewehr in die rechte Armbeuge und drückte ab. Der Rückschlag schleuderte sie gegen die Wand, aber im bläulichen Licht sah sie das Zucken einer Gestalt im Todeskampf.
Der zweite Angreifer erstarrte. Sie drückte noch einmal ab, doch das Wunder wiederholte sich nicht – der Schussmechanismus hatte sich verklemmt. Sie warf das Gewehr beiseite, zog mit der Rechten die Automatikpistole aus dem Gürtel und richtete sie gegen den Mann, der allenfalls noch einen Meter entfernt war. Wieder hörte sie nur ein grausames Klicken statt des erhofften Schussgeräuschs. Diane erstarrte. Der Mörder legte an. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Messerscheide an seinem Bein – sie erinnerte sich an die Klinge, die darin steckte, und stürzte sich auf das Etui. Sie riss das Messer heraus, schnellte mit einem Satz in die Höhe und rammte dem Mann mit einem lauten Schrei die Klinge in die Kehle.
Abrupt wich sie
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