Der steinerne Kreis
beziehungsweise Philippe Thomas war seit 1968 registriert. Damals war der Mann Psychologieprofessor an der Uni Nanterre. Ein Wunderknabe – noch nicht dreißig und schon Professor. Im Übrigen Jungianer. An seinen Namen hätte ich mich eigentlich erinnern müssen.« Er lächelte entschuldigend. »Ich hatte nämlich selber meine Jungsche Phase. Kurz und gut, im Jahr 68 geht Thomas, ursprünglich ein Sohn aus großbürgerlichem Hause, auf die Barrikaden und wird eine Galionsfigur für die kommunistischen Agitatoren. «
Diane dachte an den Mann mit dem grünen Umhang, der mit ausgestrecktem Zeigefinger zwischen den Büschen am Straßenrand gestanden hatte, an sein regennasses Gesicht unter der Kapuze.
»1969 ist der Mann nicht mehr da«, fuhr Langlois fort. »Tatsächlich ist Thomas aus Enttäuschung über das Scheitern der Revolution in den Osten abgewandert.«
»Wie bitte?«
»Der Professor ist hinter den Eisernen Vorhang verschwunden. Er lässt sich dort nieder, wo die Macht des Volkes triumphiert: in der UdSSR. Ich kann mir vorstellen, was für ein Gesicht sein Vater gemacht hat, als er die Nachricht erfuhr – er war einer der größten Wirtschaftsanwälte im gaullistischen Frankreich.«
»Und dann?«
»Man weiß nicht so genau, was er dort getan hat. Fest steht, dass er die Gegenden bereist hat, die uns interessieren, vor allem die Mongolische Volksrepublik.«
Auf der linken Spur der Nationalstraße 13 fuhren sie nach Paris zurück. Im Sonnenlicht leuchtete das rote und gelbe Laub der Baumwipfel und schien einen purpurnen Dunst in die Morgenluft zu verströmen. Diane betrachtete zerstreut die Gittertore der Parks, die prunkvollen Villen und hellen Wohnhäuser, halb versteckt hinter Laub, und erinnerte sich kaum noch an die Atmosphäre ihrer Fahrt tags zuvor.
»1974«, berichtete Langlois weiter, »hat er genug. Thomas klopft bei der französischen Botschaft in Moskau an: Das Sowjetsystem habe ihn zugrunde gerichtet. Er fleht die französische Regierung an, sie möge ihn wieder aufnehmen. Zu der Zeit ist alles möglich. Zum Beispiel auch, dass ein Überläufer, der sich fünf Jahre zuvor in den Osten abgesetzt hat, jetzt um politisches Asyl ansucht … in seinem eigenen Heimatland!« Die eine Hand am Steuer, schwenkte Langlois seine Akte wie ein Beweisstück. »Tatsache«, sagte er. »Es ist alles wahr.«
»Und … danach?«
»Danach wird alles noch verworrener. Wir finden Thomas im Jahr 77 wieder, und raten Sie, wo? Mitten in der französischen Armee, als ziviler Berater.«
»Auf welchem Gebiet?«
Langlois lächelte. »Er arbeitet als Psychologe in einem sogenannten Heeresgesundheitsinstitut, das auf Luftfahrtmedizin spezialisiert ist. In Wahrheit ist dieses Institut eine Tarnung – hier werden kommunistische Dissidenten, die in Frankreich um politisches Asyl angesucht haben, aufgenommen und verhört.«
Diane erfasste allmählich die Kehrtwende: »Sie meinen, jetzt ist er derjenige, der die sowjetischen Überläufer ausfragt?«
»Richtig. Er spricht Russisch. Er kennt die Sowjetunion. Er ist Psychologe. Wer wäre besser gerüstet als er, ihre Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit einzuschätzen? Dabei glaube ich, dass er keine andere Wahl hatte. Auf diese Weise trägt er seine Schuld gegenüber der französischen Regierung ab.« Langlois schwieg eine Weile nachdenklich, dann fuhr er mit seinem Bericht fort: »In den achtziger Jahren tritt zwischen Westen und Osten ein Tauwetter ein. Es ist die Zeit von Glasnost und Perestroika. Die Militärbehörden entlassen Thomas aus ihrem Dienst, er hat seine Freiheit wieder. Er ist noch nicht fünfzig und hat kurz zuvor ein kolossales Familienvermögen geerbt. Forschung und Lehre interessieren ihn nicht mehr; stattdessen investiert er jetzt in die Kunst und richtet seine eigene Stiftung ein, die auch moderne Malerei zeigt, wie derzeit mit der Mondrian-Ausstellung. Thomas macht keinen Hehl mehr aus seiner Vergangenheit als Überläufer. Im Gegenteil, er hält Vorträge über die sibirischen Regionen, die er bereist hat, und über die dort lebenden Völker, die er als einer von sehr wenigen Europäern kennt, insbesondere die Tsewenen, von denen Ihr Kind herstammt.«
Diane ließ sich diese neuen Informationen durch den Kopf gehen. Die Namen. Die Fakten. Die Rollen. Mit jedem weiteren Element trat ein Gefüge zutage, das ihr zunehmend logisch erschien. »Und was halten Sie von dem Ganzen?«, fragte sie schließlich.
Er zuckte die Achseln. »Ich kehre zu meiner
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