Der steinerne Kreis
lichtgefüllte Feigen. Einen kurzen Moment lang dachte sie an die Akupunktur und die Meridianpunkte, an denen die Lebensenergie des Körpers freigesetzt wird. In der Typologie von Paris hätte der Platz vor Notre-Dame ein solcher Punkt sein können. Ein Ort der Freiheit und des absoluten Freiseins.
Sie wählte die Nummer eines Funktelefons. Es läutete dreimal, dann ertönte die vertraute Stimme. Diane murmelte nur: »Ich bin’s.« Augenblicklich brach eine Sintflut von Vorwürfen und Wehklagen über sie herein. Sybille Thiberge zog sämtliche Register – Zorn, Entrüstung, Mitleid, Kummer – und würzte sie mit einer Spur Gleichgültigkeit, um klarzumachen, dass sie die Situation letztlich im Griff hatte. Im Übrigen hörte Diane im Hintergrund das Stimmengewirr eines offiziellen Diners.
»Okay, Mama«, fiel sie ihr schließlich ins Wort. »Ich hab nicht angerufen, damit wir uns anschreien. Hör mir jetzt genau zu. Ich möchte, dass du mir was versprichst.«
»Ich soll dir was versprechen?«
»Ich möchte, dass du dich um Lucien kümmerst.«
»Lucien? Aber … Ja, sicher, was hast du denn …«
»Du musst auf ihn aufpassen. Ihn begleiten, bis er wieder gesund ist. Ihn beschützen, was immer passiert.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest. Du …«
»Versprich’s mir!«
Sybille wirkte leicht aus der Fassung. »Ich … ich verspreche es dir«, stammelte sie. »Aber du, was willst du …«
»Ich muss dringend fort.«
»Was heißt fort?«
»Eine Reise, die sich unmöglich aufschieben lässt.«
»Beruflich?«
»Ich kann dir nichts sagen. «
»Meine Liebe, Charles hat mir erzählt, dass du …«
Diane machte sich die heftigsten Vorwürfe, dass sie sich ihrem Stiefvater anvertraut hatte. Sie musste verrückt gewesen sein. Er hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als alles seiner Gattin zu erzählen, und gewiss hatten sie sich beide voll besorgter Anteilnahme über Dianes gefährdeten Verstand das Maul zerrissen. Sie stellte sich die beiden als zwei ineinander verschlungene Schlangen vor – pathetisch.
Ohne sich mit näheren Erläuterungen aufzuhalten, erwähnte Diane den zweiten Lucien. Ein siebenjähriger Junge, sagte sie, ebenfalls vor kurzem adoptiert, der seine Pflegemutter verloren habe. Sie gab Sybille Namen, Adresse, Telefonnummern durch und nahm ihr das Versprechen ab, sich nach diesem zweiten Waisen zu erkundigen.
Sie hätte ihre Mutter auch über die wahrscheinlichen weiteren Entwicklungen informieren müssen: die diversen Verdachtsmomente der Polizei gegen sie, die Toten auf ihrem Weg. Aber sie hatte keine Zeit mehr. Sie zögerte. Worte drängten nach oben und lagen ihr schon auf der Zunge, Worte der Entschuldigung, eine Bitte um Verzeihung wegen ihrer Aggressivität, ihrer Gehässigkeit, ihrer Feindseligkeit, doch sie brachte die Kiefer nicht auseinander. »Ich verlasse mich auf dich«, sagte sie schließlich. Dann legte sie auf.
Ein Geschmack wie von Asche füllte ihren Mund. Reglos stand sie da, an die Glasscheibe der Telefonzelle gelehnt, und stellte sich wieder einmal die Frage, die sie seit ihrer Jugend quälte: War es richtig, ihre Mutter so zu behandeln? War diese Frau wirklich für das ruinierte Leben ihrer Tochter verantwortlich? Statt einer Antwort brachte Diane nur unverständliche Flüche heraus.
Mit Blaulicht und heulender Sirene kamen zwei Polizeiautos die Rue de la Cité herauf. Das war eine Warnung. Wahrscheinlich war inzwischen Langlois’ Leiche entdeckt worden. Sie wählte die Telefonauskunft und fragte: »Können Sie mich direkt mit der Platzreservierung am Flughafen Roissy-Charles-de-Gaulle verbinden?«
Kurz darauf vernahm sie wieder ein Läuten in der Leitung, dann meldete sich eine weibliche Stimme. Diane musterte ihre linke Hand. Die blutigen Ränder unter den Fingernägeln. Die hervorstehenden Adern. Die Hand einer alten Frau, jetzt schon. Sie fragte: »Haben Sie die Möglichkeit, mir die nächste Maschine zu einem bestimmten Ort herauszusuchen, egal von welcher Fluggesellschaft?«
»Selbstverständlich, Madame. Wohin wollen Sie?« Wieder betrachtete sie ihre Finger, die Handfläche. Die Hand einer alten Frau. Aber eine Hand, die nicht mehr zitterte. »Moskau«, antwortete sie.
Dritter Teil
T OKAMAK
KAPITEL 43
Scheremetjewo-2, Ankunftshalle,
Der Internationale Flughafen von Moskau.
Zwei Uhr morgens, Freitag, 15. Oktober 1999.
Vor Kälte schaudernd trotz ihres Parkas, folgte Diane dem Strom der
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