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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Reisenden zur Gepäckausgabe. Sie hatte die letzte Aeroflot-Maschine um zweiundzwanzig Uhr dreißig genommen und befand sich jetzt auf russischem Boden. Ihr einziger Vorteil war, dass sie die Stadt kannte. Zweimal war sie schon hier gewesen – zum ersten Mal 1993, um an einem Kongress über die sibirische Fauna teilzunehmen, den die Moskauer Akademie der Wissenschaften veranstaltete; und das zweite Mal zwei Jahre später, auf der Durchreise zu einer Expedition auf der Halbinsel Kamtschatka. Auf dem Rückweg hatte sich Diane einen einwöchigen Aufenthalt in der Stadt genehmigt, aus dem eine fantastische, träumerische Besichtigung geworden war. Eine Woche war nicht viel. Zumindest aber erinnerte sie sich an den Namen des Hotels, in dem sie gewohnt hatte: Es war das Ukrainia .
    Gegen drei Uhr morgens kam das Gepäck. Die niedrige, schlecht beleuchtete Halle hatte Ähnlichkeiten mit einem Grabmal. Leise murrend machten sich die Reisenden über den Haufen aufgetürmter Koffer her und suchten im Licht ihrer Feuerzeuge nach ihren Habseligkeiten.
    Diane hatte ihre Reisetasche bald gefunden. In Paris hatte sie sich noch Zeit genommen, nach Hause zurückzukehren und die nötigsten Kleidungsstücke zusammenzuraffen; sie hatte auch ein Satellitentelefon, das ihr der Hersteller des Modells leihweise zur Verfügung gestellt hatte, und ihre kleine Dollarreserve eingepackt – achthundert Dollar –, dann hatte sie am Bankomat ihr Konto geleert: siebentausend Francs. Unmittelbar darauf hatte sie ein eigenartiges Gefühl der Befreiung verspürt – vielleicht so ähnlich, wie es der Selbstmörder empfinden muss, wenn er vom Dach des Hochhauses springt.
    Draußen vor dem Gebäude wurde ihr klar, dass sie im Herbst abgeflogen und im Winter gelandet war. Die Kälte war nicht nur ein Begleitumstand neben anderen, sondern spielte die Hauptrolle – unerbittlich und eisig umklammerte sie den Schädel und schnitt in die Hände. Über dem glänzenden Asphalt hingen erstarrte Nebelschwaden, und in der Ferne verbanden sich Himmel und Erde in der Dunkelheit zu einem lang gestreckten Scharnier aus Eis.
    Ein Taxi war nirgends zu sehen, und Diane suchte auch keines. Sie kannte die Regeln. Sie ließ die Touristen hinter sich, und beim ersten privaten Fahrzeug, das vorbeikam, winkte sie heftig mit beiden Armen. Der Wagen fuhr weiter. Sie musste ihr Manöver noch drei Mal wiederholen, bis endlich ein Schiguli, der ohne jede Beleuchtung unterwegs war, anhielt. Der Name des Hotels und der Anblick von Dollarnoten überzeugten den Fahrer. Diane setzte sich auf einen zerfledderten Kunstledersitz, die Reisetasche auf den Knien, die Mütze tief in die Stirn gezogen, und war bald in der Dunkelheit der Nacht verschwunden.
    Der Wagen fuhr eine von gespenstischen Birken gesäumte, menschenleere Straße dahin, durchquerte dann mehrere finstere Vorstadtviertel und kam schließlich auf die Umgehungsstraße. Anstelle der Nebelfetzen vom freien Feld waberten nun der Rauch von Lagerfeuern und die Auspuffgase der Lastwagen über die Straße. Ohne Scheinwerfer betrug die Sichtweite allenfalls fünf Meter. Von Zeit zu Zeit donnerte mit ohrenbetäubendem Lärm und hydraulischem Ächzen ein Schwertransporter vorüber, und Diane spürte eine Panik in sich aufsteigen, die aus ihrer jüngsten Vergangenheit stammte – die Erinnerung an den Unfall. Der Fahrer, der sein Gesicht mit einer Skimütze vermummt und während der ganzen Fahrt noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht hatte, schien die Nervosität seiner Mitfahrerin zu spüren und schaltete das Radio ein. Eine ungestüme Hard-Rock-Nummer dröhnte aus dem Lautsprecher und fügte dem Geholper über Schlaglöcher und Furchen im Asphalt das Vibrieren der Bässe hinzu. Diane war nahe daran zu schreien, als der Mann bei der nächsten Ausfahrt zur Stadt abbog.
    Allmählich fand Diane ihre Orientierung wieder: Vom Norden her folgte man dem Lenin-Boulevard bis ins Zentrum. Auf einmal leuchteten Myriaden von Lichtern – glitzernde Schaufenster, die wie Schatzhöhlen ihre Kostbarkeiten zur Schau stellten, Logos und Werbeslogans riefen zum Konsum, die ganze Stadt schmückte sich mit Neonlichtern und Fluoreszenz. Diese überschwängliche Begeisterung für elektrischen Strom war wie ein nächtliches Augenzwinkern des Kapitalismus, der hier Tag für Tag an Terrain gewann: Es herrschte geradezu ein Zwang zur Verschwendung, der demonstrierte, dass die Zeiten des Sparens und der Einschränkung vorbei waren – auch wenn die meisten

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