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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Brandmale trug. Die »Lüü-Si-An« hatten alle ein Datum in die Fingerkuppen eingebrannt, das nur erschien, wenn sie in Trance fielen. Sie waren Botschafter. Aber an wen richtete sich die Botschaft? Und was bedeutete sie?
    Sie legte sich eine erste Antwort zurecht: Zweifellos war das Datum eine Nachricht an Männer wie Rolf van Kaen, Philippe Thomas und Jewgenij Talich – Männer, die einst im Team des Tokamak mitgearbeitet hatten und die Botschaft erwarteten, um an den Ort ihrer Vergangenheit zurückzukehren.
    Eine andere Vermutung war: Diese Kinder waren inkognito, durch Vermittlung von Adoptionsorganisationen nach Europa gekommen, die – davon war sie überzeugt – ganz legal arbeiteten. Nun waren diese Institutionen ahnungslose Glieder einer Kette – wie sie selbst eines gewesen war, als sie den kleinen Lucien adoptierte. Während es Irène Pandove gelungen war, den Wächter von Jewgenij Talich zu sich zu holen, war dies Rolf van Kaen nicht beschieden gewesen; Diane Thiberge, eine junge Unbekannte, war ihm zuvorgekommen, ohne es zu wissen. Das war der Grund, weshalb der Akupunkteur zu ihr gesagt hatte: »Dieses Kind muss leben.« Er wartete einfach darauf, dass die an ihn gerichtete Botschaft sichtbar würde, was nie der Fall gewesen wäre, wenn Lucien vor seinen Fieberschüben gestorben wäre.
    Daraus ergab sich noch eine weitere Erkenntnis: Mit dem auf der Stadtautobahn herbeigeführten Unfall hatte Philippe Thomas, der marxistische Spion, zu verhindern versucht, dass van Kaen das Datum erfuhr – um ihn von dem Stelldichein auszuschließen. Das alles schien verrückt, absurd, Furcht erregend, und doch fühlte Diane, dass es so sein musste.
    Und dann gab es noch einen anderen, der ebenfalls ein Interesse daran hatte, die Rückkehr der Tokamak-Mitarbeiter zu verhindern. Und der dieses Ziel auf radikalste Weise verwirklichte: indem er ihr Herz bersten ließ.
    Aus der Tiefe dieser schwarzen Abgründe erkannte Diane gleichwohl zwei deutliche Lichter.
    Das eine war die Gewissheit, dass Lucien – ihr Lucien – außer Gefahr war. Man hatte zu verhindern versucht, dass er die Botschaft überbrachte, aber das zählte jetzt nicht mehr, das Datum war bekannt. Lucien war also nicht mehr im Spiel. Er hatte sozusagen seine Mission erfüllt.
    Die andere Gewissheit stand paradoxerweise in Zusammenhang mit der Verstümmelung der Kinder, ihren verbrannten Händen. Es war grausam, niederträchtig, abstoßend – aber es war nicht übernatürlich. Nichts daran war eine paranormale Erscheinung. Die Wächter waren einfach kleine Jungen, denen man für immer ein Brandmal aufgeprägt hatte.
    Benommen und etwas unschlüssig stand Diane da und dachte an Patrick Langlois. Sie war sich sicher, dass der Inspektor Dinge herausgefunden hatte, die ihre Hypothesen bestätigen und ihnen einen neuen Zusammenhalt verleihen würden.
    »Ich bin gleich wieder da«, murmelte sie dem Anthropologen zu.
     
     
     
KAPITEL 42
     
    Diane füllte das Besucherformular aus und durchschritt den Metalldetektor. Es war acht Uhr abends, und die Flure des Polizeipräsidiums waren menschenleer. Der Geruch nach Leder und altem Papier war intensiver denn je: so scharf und durchdringend, dass er sie eher an tierische Ausdünstungen denken ließ. Diane kam sich vor wie im Bauch eines Wals. Das rote Leder der Türen erinnerte sie an die organischen Wände und die horizontalen Schatten des Treppenhauses an die Barten, die quergestellten Hornplatten im Oberkiefer, die der Bartenwal anstelle von Zähnen hat.
    Schnell war Diane vor dem Büro mit der Nummer 34 angelangt. Auf einem kleinen Pappschild stand der Name von Patrick Langlois, doch sie hatte die veloursbespannte Tür schon von weitem erkannt. Ein Lichtstrahl fiel durch die Ritze der angelehnten Tür. Sie klopfte. Das Geräusch wurde von dem Stoff weitgehend geschluckt. Mit zwei Fingern stieß sie die Tür auf.
    Sie hatte geglaubt, sie sei gefeit gegen jede Angst, ja überhaupt gegen jedes Gefühl. Sie hatte geglaubt, sie habe sich ein für allemal in ein Gespinst aus zarter, unsichtbarer Seide gehüllt, so unverwüstlich wie die Spinnenfäden, die bei der Herstellung kugelsicherer Westen verwendet werden. Doch sie hatte sich geirrt. Als sie jetzt wieder in diesem dunklen Zimmer stand, in dem nur eine kleine Halogenlampe die gelackte Holzplatte des Schreibtisches aus unmittelbarer Nähe beleuchtete, wurde sie von Panik ergriffen.
    Patrick Langlois saß vornübergebeugt auf seinem Stuhl, sein Kopf ruhte

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