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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Moskowiter nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag satt werden sollten.
    Diane wunderte sich jetzt, dass der Fahrer weiterhin nach Süden durch den Nebel fuhr. Er hätte nach Westen abbiegen sollen, Richtung Minsk … Auf einmal war wieder alles dunkel. In diesem Viertel gab es so viele Kirchen, dass sie sich Seite an Seite zusammendrängten oder einander in den engen Gassen gegenüber standen. Diane erkannte die verwitterten Fassaden, die schwarzen Jochbögen, die Portale, die mit der Dunkelheit verschmolzen. Hinter Gerüsten ließen Heiligenfiguren ihre schartigen Leiber, ihre gefurchten Gesichter, ihre schweren steinernen Umhänge sehen, starr wie nasse Mäntel. Diane war zunehmend beunruhigt und fragte sich, ob der Fahrer womöglich die Absicht hatte, sie in irgendeine finstere Gasse zu verschleppen und auszurauben.
    Doch als der Wagen um eine Ecke bog, waren sie unversehens auf dem Roten Platz, und Diane stockte der Atem: Vor ihr ragte der Kreml mit seinen karminroten Bollwerken, seinen vergoldeten Kuppeln auf. Der Fahrer fing schallend zu lachen an, und sie begriff, dass er ihr das Juwel seiner Stadt hatte zeigen wollen. Den Kopf eingezogen, den Kragen zum Kinn hochgeschlagen, musste sie zugeben, dass sie selig war, hier zu sein. Der Wagen folgte der Uferstraße entlang der Moskwa, bog dann in den Kutusowski-Prospekt ein, überquerte den Lubjanka-Platz – Diane erinnerte sich an die Straßennamen – und blieb schließlich unter der Leuchtschrift des Hotels Ukrainia stehen, die in die Nacht hineinperlte wie eine riesige Brausetablette in abgestandenem Wasser.
    Zu den Klängen von Led Zeppelins Stairway to Heaven verabschiedete sich Diane von ihrem Fahrer, der stumm und gesichtslos blieb. An der Hotelrezeption füllte sie das Anmeldeformular aus, dann fuhr sie mit dem Aufzug in den achten Stock hinauf. In ihrem Zimmer angelangt, fand sie es unnötig, das Licht einzuschalten: Das Parlamentsgebäude direkt gegenüber wurde derart intensiv angestrahlt, dass die gesamte Nachbarschaft taghell erleuchtet war.
    Das Zimmer entsprach ihrer Erinnerung an das Hotel. Vier Quadratmeter groß, Vorhänge und Bettüberwurf aus demselben roten Musselin, ein Geruch, der sich aus gebratenem Fett, Schimmel und Staub zusammensetzte. Russischer Schick. Nur im Badezimmer prangten neue Kacheln und auffallend hübsche Armaturen. Sie stellte sich unter die sengend heiße Dusche: Das war alles, was sie jetzt brauchte. Betäubt von der Hitze, zerschlagen am ganzen Körper, kroch sie zwischen die rauen Laken und schlief auf der Stelle ein.
    Eine Nacht ohne Träume und ohne Grübeleien.
    Das war schon mal nicht schlecht.
     
     
     
KAPITEL 44
     
    Als Diane die Augen aufschlug, war ihr Zimmer von gleißendem Sonnenlicht erfüllt. Sie sah auf die Uhr: zehn Uhr vormittags. Sie fluchte heftig, sprang aus dem Bett, verhedderte sich mit den Füßen in ihrer Reisetasche, dann stieß sie sich an der Tischkante, bis sie endlich im Bad war. Sie duschte noch einmal, zog sich rasch an und öffnete das Fenster.
    Die Stadt lag vor ihr.
    Diane sah die Moskwa, deren schwarzes Wasser im morgendlichen Licht funkelte, sie sah die orthodoxen Kirchen, die stalinistischen Wolkenkratzer, die halb fertigen Gebäude, über denen die Kräne aufragten, als wollten sie in Höhe und Feierlichkeit mit den Häusern wetteifern. Vor allem nahm sie die dröhnende Kulisse der Stadt in sich auf, diesen konfusen Ansturm von Lärm, grauem Alltag, durcheinander wehenden beißenden Gerüchen, der jede Megalopolis kennzeichnet und hier vielleicht noch brutaler, noch überwältigender war. Sie blickte hinunter auf den Kutusowski-Prospekt, über den Hunderte von Autos fuhren. Sie schloss die Augen und vereinigte sich im Geist mit diesem summenden Gewoge, und empfand dabei ein Entzücken, das ihr bewies, dass sie immer, trotz ihrer Reisen, trotz ihrer Leidenschaft für das Leben der Tiere, eine Großstädterin bleiben würde.
    Als die Kälte ihr bis in die Knochen gedrungen war, schloss Diane das Fenster und konzentrierte sich auf den Zweck ihrer Reise. Sie besaß nur noch eine einzige Gewissheit: Alle Fäden dieses Alptraums liefen im Tokamak zusammen – die Rückkehr der einstigen Mitarbeiter zum Reaktor; die sonderbare Rolle der Wächter, die irgendeine geheimnisvolle Macht ausgeschickt hatte, um die Männer zu benachrichtigen; und sogar der Mörder, dem anscheinend, einer nach dem anderen, alle zum Opfer fielen, die mit dem Forschungslabor einst zu tun gehabt hatten.
    Sie

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