Der steinerne Kreis
seitlich auf dem Schreibtisch. In seinen schwarzen Augen lag noch der gewohnte verschmitzte Ausdruck, doch sie blickten starr. Ebenso reglos war der gekrümmte Körper auf dem Sitz. Dianes erste Reaktion war Flucht. Doch als sie wieder an der Tür war, besann sie sich. Sie spähte nach rechts und nach links in den Flur: keine Menschenseele. Sie kehrte ins Büro zurück, schloss die Tür und trat auf die Leiche zu.
Das Gesicht des Inspektors lag in einer Blutlache, die allmählich erstarrte wie Teer. Diane zwang sich, langsam durch den Mund zu atmen. Sie nahm ein Blatt Papier in jede Hand und hob vorsichtig den Kopf an, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Sie befand sich unter dem Kinn. Man hatte dem Inspektor die Kehle aufgeschnitten. Der Schlitz klaffte wie ein schwarzer Schnabel über den Strukturen des Kehlkopfs, klebrig und dunkel. Sie wusste nicht, wie sie es schaffte, aber irgendwie gelang es ihr trotz des grässlichen Anblicks – und seiner Bedeutung –, eine gewisse Distanz zu wahren. Sie registrierte nur die Sekunden, die verstrichen, von denen jede eine neue Frage aufwarf: Wer hatte Langlois ermordet? War es wieder der einzelgängerische Mörder – die Person, die Menschen umbrachte, indem sie ihre Aorta zudrückte und das Herz zum Bersten brachte? Oder handelte es sich um einen Komplizen der Russen von der Stiftung? Die Dreistigkeit des Verbrechens verschlug ihr den Atem: Ein Mörder hatte es gewagt, einen Inspektor der Kriminalpolizei direkt im Präsidium zu ermorden.
Sie dachte an die Akte: diese Papierstöße, von denen Langlois sich nie getrennt hatte, die einen Teil der Wahrheit bargen. Sie begann blutige Gegenstände zu verschieben, blutbefleckte Papiere zu überfliegen, die auf dem Schreibtisch herumlagen, und dabei murmelte sie ununterbrochen vor sich hin, wie eine mystische Litanei: »Lucien, Lucien, Lucien …« Alles, was sie tat, tat sie für ihn. Er war ihre Kraft, ihre Lebensquelle. Sie zog Schubladen heraus, prüfte Unterlagen, sah sich alles genau an. Sie kramte in der Aktentasche des Polizisten, durchsuchte die beiden Schränke in den dunklen Ecken. Nichts. Sie fand nichts. Ihr war klar, dass sie ohnehin nur der Form halber suchte: Der Mörder hatte selbstverständlich alles mitgenommen. Eben deswegen hatte er gemordet: um alle Beweise und Indizien zu vernichten.
Sie warf einen letzten Blick auf das Gesicht des Mannes mit den silbrigen Haaren, das sich in der Blutlache undeutlich spiegelte. Am Telefon hatte er gesagt: »Möglicherweise sind Sie tiefer in diese Sache verwickelt, als ich dachte …« Was hatte er denn herausgefunden? Sie war fassungslos, völlig verloren. Sie dachte an Irène Pandove. An Rolf van Kaen. An Philippe Thomas. An die drei Männer, die sie umgebracht hatte. Wie ließ sich ein derartiges Schlachtfeld erklären? Und ihre eigene Rolle bei dem Gemetzel? Sie sah sich selbst als Todesengel, der alles hinwegfegte, was ihm nahe kam. Ein heißes Brennen stieg ihr in die Augen. Sie hielt die Tränen zurück und stürzte hinaus in den Flur wie eine Schattengestalt.
Während sie durch den Korridor hastete, fiel ihr das Besucherformular wieder ein, das sie bei ihrer Ankunft ausgefüllt hatte. Sie war geliefert. Schwarz auf Weiß war sie nun als die Person registriert, die den Ermordeten zuletzt gesehen hatte. Sie musste fliehen. Hals über Kopf die Flucht ergreifen.
Diane durchquerte den Innenhof und entkam ungesehen durch eine Seitenpforte. Mit raschem Schritt folgte sie dem Quai des Orfèvres, dann dem Quai du Marché-Neuf und gelangte zum Platz vor der Kathedrale Notre-Dame. Vor dem Hôtel-Dieu blieb sie stehen. Das Krankenhaus war taghell erleuchtet: Das Licht, das durch die hohen Bogenfenster herausfiel, ließ die Fassaden hell schimmern und verbreitete eine eigenartige Festtagsstimmung, feierlich und unbeschwert zugleich.
Der Gedanke an Lucien durchfuhr sie wie ein Messerstich. Sie konnte ihn nicht allein lassen, selbst wenn sie nach wie vor überzeugt war, dass er außer Gefahr war. Wer würde ihn in der Welt der Lebenden begrüßen, wenn er wieder aufwachte? Wer würde sich um ihn kümmern? Mit wem würde er sprechen, bis Diane wiederkam – falls sie überhaupt wiederkam? Sie dachte an die junge Thailänderin der ersten Wochen.
Dann hatte sie eine andere Idee. Sie fand eine Telefonzelle und trat ein. Durch die Glasscheibe konnte sie die Leinwandbahnen sehen, mit denen das Gerüst um Notre-Dame verhängt war – die Straßenlaternen davor sahen aus wie
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