Der sterbende Detektiv - Roman
Haares auf dem weißen Kissen von sich zu schieben.
Anschließend nahm er Yasmines Porträtfoto zur Hand, auf dem sie mit ihren strahlenden braunen Augen und gleichmäßigen weißen Zähnen in perfekter Zahnstellung den Fotografen anlächelte. Doch ebensowenig wie er um die Ecke denken konnte, konnte er hinter ihre Augen und ihren Mund blicken. Er konnte nicht hinter ihren schmalen Nacken sehen und auch nicht, wie sie ihr langes, schwarzes Haar getragen hatte. Es hilft auch nichts, das Foto umzudrehen, dachte er und empfand bei diesem Gedanken dasselbe unbegreifliche Entzücken wie damals, als er erwogen hatte, der Telefonistin mitzuteilen, er rufe vom Reichsverband der pensionierten Polizeibeamten an.
Johansson ließ das Foto auf die Decke sinken, stärkte sich mit einen Schluck Kaffee, atmete drei Mal tief ein und versuchte, sich zu sammeln.
»Lars Martin Johansson, du drehst langsam durch«, sagte er laut zu sich selbst. Jetzt reiß dich verdammt noch mal zusammen, dachte er. Es funktionierte. Ganz plötzlich war er wieder ruhig und gefasst. Er nahm das Foto wieder zur Hand und betrachtete es nochmals.
Ich bin zwar kein Frisör, dachte Johansson, aber auf diesem Bild sieht es so aus, als trüge sie das Haar zusammengebunden oder als Pferdeschwanz oder wie auch immer das heißt. Mittels Haarspange, eines Haarbandes oder eines normalen Gummibandes, wie es seine Frau verwendete, um im Fitnessstudio, oder wenn sie sich einfach nur bewegen wollte, ihre vielen Locken zu bändigen.
Bo Jarnebring war ein sehr pedantischer Mann. Ein zu Recht legendärer Ermittler. Das Erstellen von Personenbeschreibungen war eine seiner Stärken. Als Anlage zum Protokoll fand sich eine Liste der Vernehmungen, die er durchgeführt hatte, um herauszufinden, was Yasmine bei ihrem Verschwinden getragen und was sie sonst noch bei sich gehabt hatte. Drei Vernehmungen der Mutter, zwei des Vaters, insgesamt zehn der fünf Zeugen, die sie auf dem Weg von der Wohnung der Mutter zum Haus des Vaters gesehen hatten. Dazu etwa zehn Zeugen, die vermutlich fälschlicherweise glaubten, sie gesehen zu haben, weil ihre Beschreibungen Yasmines und ihrer Kleidung nur in wenigen Punkten mit den Aussagen der anderen sieben Zeugen übereinstimmten.
Nirgendwo war von einer kleinen roten Monchichi-Plastikhaarspange die Rede. Das Einfachste ist vermutlich, Jarnebring anzurufen, dachte Johansson, wobei sich eine große Müdigkeit in seinem Körper ausbreitete. Aus seinem Kopf waren plötzlich jegliche Kraft, Gedanken und Willen gewichen. Kaum hatte er den Ordner beiseitegelegt, war er auch schon eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich kaum erinnern, was anschließend geschehen war.
Das warme Abendessen, das er ausgeschlagen hatte, wobei er pflichtschuldig ein Knäckebrot mit Käse, ein paar Gläser Wasser und eine Birne (vielleicht war es aber auch ein Apfel gewesen) zu sich genommen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er auf die Toilette gegangen, hatte eine Katzenwäsche durchgeführt und sich die Zähne geputzt. Dann mit Pia über alle praktischen Dinge geredet, die geregelt werden mussten, wenn er jetzt wieder in die große Maisonettewohnung in Södermalm zurückkehrte, in der sich Küche und sein
Arbeitszimmer unten befanden und ihr gemeinsames Schlafzimmer und das Badezimmer eine Treppe höher waren. Eine schmale Treppe, die er vermutlich weder rauf- noch runterkommen würde. Jedenfalls nicht in seinem gegenwärtigen Zustand.
»Wenn du willst, können wir ein Bett in dein Arbeitszimmer stellen. Dort ist ja viel Platz. Oder du kannst unten im Gästezimmer schlafen. Du musst nur sagen, wie du es haben willst.«
»Ich kann auf der Couch schlafen«, hatte Johansson gemeint und war im selben Augenblick auch schon wieder eingeschlafen.
Er schlief die ganze Nacht und träumte von Yasmine. Jedoch nicht angsterfüllt, aber auch nicht freudig, eher nachdenklich. Was immer Nachdenklichkeit in einem Traum zu suchen hatte. Vielleicht war es auch Trauer. Trauer, die ihn noch nicht befallen, ihn noch nicht eingeholt hatte.
Die Yasmine vom Foto. Ohne das Lächeln. Sie steht da und sieht ihn an. Ernst, abwartend, aber nicht verängstigt.
»Hallo, meine Kleine«, sagt Johansson. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Sie antwortet nicht, aber nickt ihm zumindest zu. Angst hat sie also keine.
»Ich habe deine Haarspange gefunden«, sagt er und reicht sie ihr.
»Danke«, sagt sie erstaunt, aber jetzt lächelt sie.
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