Der sterbende Stern
wenig flacher als gewöhnliche Menschennasen. Die Frau hatte Augen so groß und leuchtend wie der Edelstein, der sie schmückte. Augen eines Nachtwesens.
Sie sagte zu Gelmar: »Wolltest du ohne anzuhalten durch unsere Berge ziehen?«
»Tochter Skaiths«, sagte Gelmar ein wenig gereizt, »wir haben dringende Angelegenheiten zu erledigen, und die Zeit ist knapp. Ich danke dir für diese Ehre …«
»Mit Ehre hat das nichts zu tun«, sagte Kell à Marg und sah an ihm vorbei auf die Gefangenen. »Sind das die Bösewichter, die du gesucht hast?«
»Kell à Marg …«
»Du hast den ganzen Norden gegeneinander aufgehetzt. Kein Wunder, daß wir Bescheid wissen. Wir sind in unseren Höhlen nicht taub.«
Die Gereiztheit nahm zu. »Kell à Marg, ich habe dir gesagt …«
»Du hast mir gesagt, daß Skaith bedroht ist. Von etwas Neuem und Seltsamem, mit dem nur ihr von der Zitadelle fertig werden könntest. Du hast es mir nur gesagt, weil ich dich danach gefragt habe.«
»Du brauchtest dir deshalb keine Sorgen zu machen.«
»Du nimmst zu viel auf deine Schultern, Gelmar. Du willst die ganze Zukunft von Skaith, unserer Mutter, in die Hand nehmen, ohne uns, ihre Kinder, zu Rate zu ziehen.«
»Es ist nicht genug Zeit, Kell à Marg! Ich muß diese Leute so rasch wie möglich in den Süden bringen.«
»Du wirst Zeit erübrigen müssen«, sagte Kell à Marg.
Man schwieg. Der Wind heulte und pfiff um die Felsen.
Gelmar sagte: »Ich bitte dich, dich nicht einzumischen.« Aus Gereiztheit war Verzweiflung geworden. Er kannte diese Frau, dachte sich Stark. Kannte sie und fürchtete sie, konnte sie nicht ausstehen. »Ich verstehe mich auf diese Leute. Ich hatte mit ihnen zu tun und weiß, was getan werden muß. Bitte, laß uns ziehen.«
Der Boden erbebte ganz leise. Die schiefe Figur über ihnen schien zu schwanken.
»Kell à Marg!«
»Ja, Stabträger?«
Ein zweites kleines Beben. Kiesel rollten in die Tiefe. Der schiefe Mann lehnte sich vor. Die Harsenyi führten ihre Tiere rasch ein Stück weiter.
»Gut«, sagte Gelmar zornig. »Ich werde die Zeit erübrigen.«
Kell à Marg sagte lebhaft: »Die Harsenyi mögen eintreten und am üblichen Ort warten.«
Sie drehte sich um und lief mit geschmeidig wiegendem Schritt auf die Felswand zu. Steinfiguren bildeten eine Art Gasse. Sie durchlief sie zusammen mit Fenn und Ferdic, und der Reiterzug folgte ihr gehorsam.
Gerrith hatte sich aufgerichtet. Halk sah Stark spöttisch an und sagte: »Einfach wegdiskutieren kann man die Kinder nicht!«
Eine große Steinplatte ging auf. Die Gruppe schritt in den Berg hinein. Das Tor schloß sich.
Kell à Marg warf ihren Umhang ab. »Wie ich den Wind hasse«, sagte sie. Sie blickte Gelmar lächelnd an.
Sie befanden sich in einer weiten Höhle, offensichtlich der Ort, an dem der Handel mit den Harsenyi abgewickelt wurde. Kleine Lampen gaben schwaches Licht, und die Luft roch nach süßlichem Öl. Die Wände waren ungeglättet und der Boden uneben. An der hinteren Wand war ein zweites Tor.
»Die Stabträger von niedrigem Rang werden nicht gebraucht«, sagte Kell à Marg. »Der Verwundete wird uns auch nicht viel nützen und kann ebenfalls hier bleiben. Diese beiden.« Sie zeigte auf Gerrith und Stark. »Die weise Frau und der, den man, glaube ich, den Dunklen Mann nennt. Ich will sie mitnehmen. Und natürlich brauche ich deinen Rat. Gelmar.«
Gelmar konnte seine Wut kaum verbergen. »Ich brauche Wächter. Dieser Stark ist gefährlich.«
»Auch in Fesseln?«
»Auch dann.«
»Vier deiner Geschöpfe also. Obwohl ich mir nicht denken kann, wie er aus dem Haus der Mutter flüchten will.«
Man kletterte von den Tieren. Kell à Marg wartete mit ihren Höflingen. Sie blickte Stark neugierig an.
Er gab ihren Blick zurück. Sie hatte einen schlanken Körper, der so hochmütig wirkte, wie die Stimme klang. Ein prächtiges Tier, eine sinnliche Frau. Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ob der da gefährlich ist, weiß ich nicht, aber er ist auf jeden Fall kühn.« Sie drehte sich um und ging durch das innere Tor. Es schwang geräuschlos auf. Gelmar, die zwei Gefangenen und die Wachen folgten den Kindern. Die Felsplatte wurde hinter ihnen geschlossen, und sie befanden sich in einer seltsamen, schönen Welt.
Stark lief es ganz leicht kalt über den Rücken. Das Haus der Mutter roch nach süßem Öl, nach Staub, Tiefe und Höhlen.
Es roch nach Tod.
22.
Sie befanden sich in einem weiten und hohen Gang, der von flackernden Lampen
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