Der Stern des Untergangs
gewesen, ein kräftiger junger Bursche, ein guter Mann.
»Es tut mir so leid, Iatos.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich musste schon allzu oft erleben, dass die Götter jenen, die ich liebte, den Tod brachten, als dass ich diesen überlang betrauerte. Klingt das gefühllos?«
»Nein, realistisch.«
»Es ist nur, dass ich es leid bin, immer der Überlebende zu sein«, gestand er ihr und nippte an seinem Tee. »Ich möchte niemandem durch meinen Tod Leid bereiten, aber ich fürchte mich vor dem Leid, das ich immer erdulden muss, wenn jene, die ich liebe, sterben – und sterben und wieder sterben. Bin ich verflucht, Sonja?«
»Nein, Iatos, nein. Du lebst nur, wie deine Freunde lebten. Sie fanden bloß früher den Tod.«
»Es muss mehr als das sein«, flüsterte er in seinen Brei.
Sonja schlug ihm auf die Schulter. »Du und ich, wir sitzen hier und füllen uns die Bäuche, damit wir über die Steppe reiten können, um diese wahnsinnigen … Nun, ich will nicht unfreundlich sein; schließlich geben sie mir zu essen. Aber ihnen zu helfen, eines gefallenen Sterns wegen gegen Zauberer zu kämpfen … Das ist alles, Iatos. Sollte es mehr als das sein?«
Er musste grinsen. Dann wandte er sich ihr zu und blickte sie halb lächelnd, halb stirnrunzelnd an. »Deine Nähe tut mir gut, Sonja. Wärst du keine Frau …«
»Nicht auch du noch!« Sonja lachte. »Bin ich denn vor keinem Mann sicher?«
Nun lachten beide und beendeten ihr Frühstück.
Krieger, Frauen, Kinder und Vieh kamen auf dem Platz vor ihnen vorbei. Bo-ugan erschien in Begleitung seines Stabes und sprach mit einigen Männern auf der Mauer; dann ging er wieder. Als sie ihn sah, erinnerte sich Sonja an ihr Versprechen, über eine bessere Belagerungsmöglichkeit der Zikkurat nachzudenken.
Sie wollte bereits darüber mit Iatos sprechen, als ein kräftiger Bursche von sechzehn oder siebzehn Jahren auf den Platz kam. Er trug kein Schwert, wohl aber eine leere Scheide an der Seite, auch hatte er keine Messer oder andere Waffen. Er war ungebadet, das fettige›Haar hing in langen Locken bis auf die Schultern. Speichel sickerte ihm aus den Mundwinkeln. Hin und wieder zuckten seine Hände, wenn er auf dem glatten Boden stolperte. Als er den Tisch erreichte, wo das Frühstück aufgestellt war, ließ er zwei hölzerne Schüsseln fallen, ehe es ihm gelang, eine dritte festzuhalten.
Die Frauen, die das Frühstück austeilten, behandelten den jungen Burschen zuvorkommend und voll Mitleid. Er nahm seinen Brei, vergaß jedoch den Tee, ja sogar den Löffel. Unsicheren Schritts begab er sich zu einer einsamen Bank, setzte sich und machte sich daran, den Brei zu trinken. Ein Teil schwappte ihm auf die Brust, einiges davon sammelte er mit den Fingern auf und hob es an den Mund.
»Und der da«, murmelte Iatos düster.
»Urrim?« fragte Sonja.
»Du kennst ihn?«
»Nur seinen Namen und dass sein entsetzlicher Zustand von einer Verletzung herrührt.«
»Sie trafen ihn am Kopf«, erzählte Iatos. »Er wurde von einem Geschoß oder einem Zauberblitz getroffen. Das beschädigte sein Gehirn, ohne ihn zu töten.«
»Der Tod wäre gnädiger gewesen«, meinte Sonja.
»Wer weiß? Vielleicht wollen die Götter damit etwas bewirken.«
»Ich finde, er wäre besser tot«, sagte Sonja erneut, »als dass er so leben muss, nicht ganz Mensch, aber auch nicht ganz Tier.«
»Nein, nein, das darfst du nicht sagen!« wehrte Iatos ab. »Gewiss hat es irgendeinen Zweck.«
Sonja schüttelte den Kopf. »Ich glaube, deshalb bewundere ich dich, Iatos. Oder vielmehr, das ist einer der Gründe.«
Der Veteran blickte sie fragend an und schaute ihr fest in die Augen.
»Du hast so viel durchgemacht, weit mehr als ich, Iatos, und trotzdem bist du nicht verbittert. Du glaubst immer noch an einen Zweck, an einen Sinn für das alles, nicht wahr?«
»Ja, Sonja, das glaube ich, weil ich denke, dass wir durch unser, kurzes Leben beschränkt sind. Wir können nur einen kleinen Teil des Ganzen sehen. Es ist uns nur gegeben, einen Bruchteil zu verstehen. Und doch bilden die meisten sich ein, über ein großes Wissen zu verfügen.«
»Vielleicht müssen wir das«, sagte Sonja nachdenklich.
»Nein, das müssen wir nicht. Wir können mit dem fertig werden, was uns zustößt, und die Dinge mit wachem Blick sehen. Hast du dich je mit einem Frosch beschäftigt, Sonja? Wenn du neben einem Frosch auf den Boden schlägst, wird er springen, weil es ihn überrascht. Wenn du ein zweites Mal auf den Boden schlägst und
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