Der Stern des Untergangs
ein drittes und viertes Mal, wird der Frosch so überrascht sein wie beim ersten Mal. Er sammelt keine Erfahrung, er erwartet keine Reihe von Schlägen.«
»Es ist gut, Erfahrung zu sammeln, mit weiteren Schlägen zu rechnen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Was ist, wenn du Schläge erwartest und statt dessen als nächstes Musik hörst? Wenn du Schläge erwartest, reagierst du auf Musik vielleicht so wie auf einen Schlag. Wessen Schuld ist das? Wenn du unter Feinden aufgewachsen bist, hältst du jeden für einen Feind. Wenn du daran gewöhnt bist, ein Messer zum Töten zu verwenden, wie kannst du dir dann beibringen, dass es auch zum Brotschneiden verwendet werden kann – oder um ein wundervolles Kunstwerk aus einem Stück Holz zu schnitzen?«
»Menschen sind keine Frösche!«
»Sehr richtig«, bestätigte Iatos. »Aber warum erwartet man etwas, wenn etwas ganz anderes kommen könnte? Warum überhaupt etwas annehmen?«
»Darüber könnte man lange philosophieren«, gab Sonja zu. »Aber es scheint mir müßig zu sein. Was hat es mit Urrim zu tun? Soll ich von ihm erwarten, dass er etwas anderes ist, als man denkt? Was hat er mit dir zu tun oder mit mir, oder mit Bo-ugans Krieg gegen die Zauberer der Roten Sonne?«
»Alles muss seinen praktischen Wert haben, nicht wahr, Sonja?«
»Muss es das?«
»Natürlich, das weißt du so gut wie ich. Vernunft ist zweckmäßig. Träume sind zweckmäßig – sie müssen es sein, sonst würden wir sie ausrotten. Sie führen uns zu Größerem. Und du fragst, was meine Überlegungen mit dem wirklichen Leben zu tun haben? Mit unserer Lage hier? Hör mir zu! Bo-ugans Absicht ist, den nächsten Schlag zu verhindern. Selbst die Luft über dem Land ist furchtgetränkt. Spürst du sie nicht wie die Hand eines Riesen, die jeden Augenblick herabfallen kann?«
Eine plötzliche Aufregung auf der Mauer unterbrach Iatos. Soldaten gestikulierten und redeten aufeinander ein. Einige eilten die Stiege herunter und quer über den Platz, auf Bo-ugans Haus zu. Die Leute auf dem Platz, Soldaten und Frauen und Kinder gleichermaßen, unterbrachen, was sie taten. Sie hörten auf, sich zu unterhalten oder zu spielen, oder stellten ihre Schüsseln und Becher ab und blickten ohne Ausnahme zu den Soldaten auf dem Mauerwehrgang. Einige der Wachen deuteten herunter. Sonja stand auf. »Söldner kommen!« rief sie.
Auch Iatos erhob sich und blickte ihr nach, denn sie hatte ihn für den Augenblick vergessen, genau wie seine Philosophie und seine Überlegungen, und er rannte, um nachzusehen, was sich tat.
Einmal würde sie sich an Iatos’ Worte erinnern und darüber nachdenken. Doch sie war noch sehr jung …
»Wer ist es?« fragte sie einen Soldaten am Fuß der Mauer.
»Nordmänner, wie es aussieht«, antwortete er. »Mehr lässt sich nicht sagen, sie sind noch etwa eine Stunde entfernt.«
»Viele?«
»Genug zur Verstärkung, würde ich sagen. Ich hoffe, Bo-ugan kann sie kaufen.«
»Der Sommer ist schon zur Hälfte vorbei«, erinnerte Sonja ihn. »Sie brauchen die Sicherheit, dass sie im Winter Unterkunft und Verpflegung haben werden.«
»ja, ja. Aber wenn sie nicht so klug sind, könnte es sein, dass sie sich mit uns anlegen wollen. Vielleicht nicht sofort, aber auf anderem Weg. Dann müssten wir sie abwehren und außerdem die Belagerung aufrechthalten.«
Das zündete irgendwie einen Funken in Sonja; warum war ihr nicht klar, doch die Möglichkeit erregte sie. Zu kämpfen – zu töten … Sie dachte daran, und an Bo-ugans wahnsinnige Ausdauer. Etwas schien in einem Winkel ihres Gehirns zu kribbeln, etwas, das mit der seltsamen Stimmung über dem Land zusammenhing …
»Söldner?« fragte Iatos sie, als er auf sie zukam.
So sehr war sie in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie zusammenzuckte. »Ja, etwa eine Stunde entfernt.« Durch Iatos’ Frage war das Kribbeln verschwunden – aber es würde auch später wiederkommen, genau wie Iatos’ Philosophien.
Im Augenblick jedoch gab es bloß das angespannte Warten auf die Söldner.
Ostor war es, der die Söldner anführte – ein dunkelblonder Riese in schwerer Kettenrüstung, der genügend Schwerter und Messer bei sich trug, um drei kleinere Männer zu bewaffnen. Sein Gesicht wies Narben von zahllosen Schlachten auf.
Bo-ugan, der ihn von früher kannte, befahl, das Tor zu öffnen und ihn mit einem Dutzend seiner Leute einzulassen. Und während Bo-ugan und Ostor sich zu des Hetmans Haus begaben, um die Bedingungen für die Übernahme
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