Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
das Bild der toten Treiber vor seinem inneren Auge. Dann sah er Hannes, Peter und Jörgen, die verdrehten Körper, Entsetzen im Blick. Die klaffenden Wunden, das Blut, den feigen Mord. Und dann, die Leiche des Vaters, den Schnitt in seiner Kehle, das Lachen des Todes. Der entsetzliche Riss, aus dem alles Leben herausgesickert war.
Und dann kam der Schmerz. Wie Eiswasser schlug er über ihm zusammen und riss ihn mit sich in die Tiefe. Eine schweigende, entsetzliche Stille.
Wie weit lagen die Geschehnisse auf der Heide inzwischen zurück? Er war nun fast sechzehn Jahre alt und dem Hemd des mageren Knaben entwachsen. Ein Kerl, so las er es in den Augen der anderen. Die harte Arbeit hatte seine Muskeln geformt, seine Hände glichen kantigen Werkzeugen, die Schultern konnten schwere Last stemmen und die Wangen bedeckte ein rotblondes Stoppelfeld. Seine Stimme war in die Tiefe gerutscht, vielleicht, weil er sie so selten gebrauchte. Er konnte ausdauernd und schnell laufen und noch besser reiten. Die Tiere waren ihm ergeben, genauso wie Lisbeth, die Tochter eines Bauern, die ihn manchmal mit einer Leckerei und einem Lächeln auf den Feldern überraschte.
In ihrer Gegenwart fühlte er sich seltsam leicht, auch wenn er kaum ein gemurmeltes Danke für ihre Gaben über die Lippen schieben konnte. Lisbeth hingegen bedachte ihn mit einem Nicken und einem tiefen Blick, der ihn für kurze Zeit aus seiner Erstarrung riss.
Dann stellte er sich vor, wie es wäre, ihre Hand zu nehmen und sie an einen Ort zu führen, den nur sie beide kannten. Er würde sich neben sie legen und der gefiederte Farn umfinge ihr Lager wie eine duftende, flüsternde Wand. Vielleicht gestattete sie ihm auch, ihr Gesicht zu berühren, den schelmischen Mund, die sanfte Nase und die geschwungenen Brauen. Er würde ihre Lider küssen und wenn sie die Augen schloss, könnte er es wagen, mit den Händen ihren Leib zu erforschen, um ihr Geheimnis zu entdecken. Er sehnte sich nach der Berührung ihrer fürsorglichen Hand.
An diesem Punkt jedoch gerieten seine Gedanken auf die verschlungenen Pfade der Erinnerung. Mal blitzte die goldene Scham des toten Mädchens auf, das er aus dem Karpfenweiher gezogen hatte. Ein schmerzlicher Anblick. Dann zog sich sein Magen zusammen und die köstlichen Gefühle versanken in schwarzem Morast. Mal sah er das Gesicht seiner Schwester, ihr fröhliches Lachen. Und er stellte sich vor, wie sie heute aussähe. Dachte sie noch an ihn?
Die Nachrichten aus Schleswig waren zuletzt schlecht gewesen. Die Seuche hatte die Stadt befallen, man sprach von vielen Hundert Toten. Doch nun hieß es, dass der Schwarze Tod über die Ostsee weitergezogen war. Oss hatte sich um das Schicksal seiner Schwester gesorgt, aber ein starkes Gefühl sagte ihm, dass sie noch lebte.
Ja, Sophie lebte. Aber was war mit ihm? Oss blickte auf und sah wieder in die Runde. Die meisten Burschen waren zusammengesackt, die Wärme des Feuers und der Alkohol hatten sie hinab in einen Dämmerschlaf gezogen. Noch einmal setzte er die Flasche an den Mund und stürzte den letzten Rest Rum herunter. Dann stand er schwankend auf. Nein, das war kein Leben!
Ritter Rantzau, dachte er zornig, und trat nach den Flammen. Das züngelnde Gesicht zerstob. Nicht mehr lange! Und während sein Schwur mit den tanzenden Funken in den Himmel stieg, war er endlich zu seinem liebsten Gedanken gelangt.
Tot, tot, tot – so hallte das vor langer Zeit gegebene Versprechen in seinem Kopf und der Rum ließ ihn unbeherrscht auflachen.
Oss hatte viel Zeit gehabt, um seinen Plan reifen zu lassen. Bei Nacht müsste es geschehen, so hatte er es entschieden. Er würde den Ritter im Schlaf überraschen und ihm den scharfen Dolch – das Geld dafür hatte er über die Jahre durch Gefälligkeiten zusammengespart – ins Herz stoßen. Und dann würde er Rantzaus Schergen bluten lassen. Auch sie sollten mit ihrem Leben büßen.
Leben für Leben, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme …
In den trunkenen Nächten erschien ihm sein Plan sinnhaft und leicht zu vollenden, doch am nächsten Morgen, schon beim Aufwachen aus den rumgetränkten Träumen, zweifelte er. Reichten seine Kräfte wirklich schon aus? Könnte er sechs Männer töten, einen nach dem anderen? Und wie umginge er die nächtlichen Wachen? Wie käme er Ritter Rantzau nah genug, dass nichts mehr zu tun bliebe, als auf ihn herabzustarren und zuzustechen, um danach die Befriedigung der Rache zu spüren?
Oss wankte zurück zu den Ställen.
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