Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
halten.
Ein Doppelgänger. Die Worte hallten in Sophies Gedanken nach. Da war etwas, dass sich seinen Weg bahnen wollte. Sie versuchte, das Unfassbare zu denken, in Worte zu kleiden.
»Christian …«
Farid sah sie fragend an, sein Gesicht war von der Hitze und dem schnellen Lauf zu ihr gerötet. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
»Was ist, wenn Christian noch lebt?«
»Dein Bruder?«
Sophie nickte hilflos, ihr Kopf schien zu explodieren. Unzählige Erinnerungen an ihren Bruder strömten auf sie ein. Ein Strudel von Bildern und Gefühlen. Halt suchend schmiegte sie sich in Farids Arme.
Farid schüttelte den Kopf, seine Hand fuhr unablässig über ihr nasses Hemd, als versuchte er, den Gedanken von ihr fortzuschieben.
»Sophie, er ist tot. Er ist bei dem Überfall auf die Viehtreiber umgekommen. Das hast du mir all die Jahre erzählt.«
Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, sie versuchte sich an Ereignisse von damals zu erinnern. Was hatte sie selbst gesehen und was hatte man ihr erzählt?
»Ich habe seinen Leichnam nie gesehen«, flüsterte sie. »Nicht mit eigenen Augen. Als man die Toten auf der Heide fand, waren ihre Körper bereits verwest. In Schleswig sind die Überreste sofort bestattet worden. Was ist, wenn er sich retten konnte?«
»Aber warum hat er nie nach dir gesucht? Warum ist er verschwunden? Das ergibt doch keinen Sinn …«
»Und wie konnte er unter eine Bande von Mördern geraten?«
Sophie zitterte nun am ganzen Körper, ihre Zähne schlugen gegeneinander. Fassungslos begann sie zu weinen.
In der Nacht lagen sie beieinander. Irgendwie hatte Sophie den Nachmittag und die Abendstunden, die Arbeit in den Gärten, den Spott und die Sticheleien der anderen überstanden. Die Gartenjungen hatten getönt, dass sie in den Vollmondnächten wohl mit einem Spaten bewaffnet über Land ritt. Doch niemand hatte sie ernsthaft mit der Bande in Verbindung gebracht, das Konterfei auf dem Flugblatt war ein Kuriosum – mehr nicht. Selbst Hofgärtner Friedrichs, der seinen Eleven auf das Blatt ansprach, hatte mit einem verwunderten Schulterzucken reagiert. »Wahrscheinlich hat Ritter Rantzau in der Nacht kaum etwas erkennen können. Das Bild entstammt wohl seiner Fantasie.«
Doch Sophie spürte, dass sie alle irrten. Und der Gedanke, dass Christian lebte, entließ sie mit tausend Fragen in die Nacht.
Farid hatte sie bei der Arbeit nicht aus den Augen gelassen. Als das Licht endlich aus den Gärten schwand und ihr Tagwerk beendet war, zog er sie mit sich den Hügel hinauf.
»Lass uns unter den Sternen schlafen«, sagte er, als Sophie ihn nach seinem Ziel fragte. Auf verschlungenen Pfaden führte er sie durch die Hecken, bis die Gärten sich wie ein bunter Teppich unter ihnen ausbreiteten. Dann zog er sie hinab ins Gras.
Ihr Bett war weich und duftend, über ihnen leuchtete der Nachthimmel durch das Geäst der Bäume. Ein merkwürdiger Schimmer lag über dem Land, die Dunkelheit schien mit der strahlenden Glut des Tages zu kämpfen.
»Ist dir warm genug?« Farid hielt sie in seinen Armen, ihr Kopf lag an seiner Schulter, sie lag auf der Seite und hatte sich nicht von ihm abgewandt. Sie war ihm so nah wie noch nie, sein Herz klopfte fordernd.
»Was soll ich tun, Flieder?« Sophie schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Sie fühlte sich geborgen in seinen Armen.
»Willst du ihn suchen?« Farid flüsterte, seine Lippen berührten für einen winzigen Moment ihr Ohr. Ein Schauer raste ihren Rücken hinab und entlud sich an jenem geheimnisvollen Ort, der so gut versteckt in ihrer Mitte lag. Ein Geräusch stieg aus ihrem Innersten herauf, kehlig und fremd.
»Vielleicht sollte ich ihm eine Nachricht hinterlassen, wo er mich finden kann.« Sophie flüsterte ebenfalls, alles andere schien ihr falsch. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.
»Sophie, ich helfe dir – immer, immer, immer.« Farids Finger zeichneten die Konturen ihres Gesichtes nach, er spürte ihre Tränen.
»Er wird mich in der Hütte auf dem Holm suchen. Vielleicht war er schon einmal da und vielleicht braucht er meine Hilfe?« Sophie schüttelte den Kopf, sie merkte, dass ihre Worte keinen Sinn ergaben. Warum sollte Christian ausgerechnet jetzt nach Schleswig zurückkehren, jetzt, wo ihn alle Welt suchte? Er müsste in den Wäldern bleiben, sich verstecken. War er wirklich ein Verbrecher? War er ein Mörder?
Farid schien ihre Gedanken lesen zu können. Sanft strich er mit den Fingerkuppen über ihre Lippen, dann
Weitere Kostenlose Bücher