Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
während die beiden Frauen einen Spaziergang mit Caelum unternahmen.
Offensichtlich hatte Morgenstern ihren Argwohn gegenüber der jungen Frau abgelegt.
Morgenstern legte nun zögernd das Bändchen beiseite.
Ihr stand später noch ausreichend Zeit zur Verfügung,
alle diese Bücher zu lesen. »Befindet sich sonst noch
etwas im Narrenturm?«
Sternenströmer schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben
alles herausgeholt, was dem Seneschall gehörte, und das
meiste davon verbrannt. Unter der Holzverkleidung an
den Wänden stießen wir auf die ursprünglichen gemalten
Verzierungen. Axis, sie ähneln sehr den Schnitzereien in
der Höhle mit dem Brunnen, durch den wir in die Unterwelt gelangten.«
Der Krieger nickte und erinnerte sich an die schönen
Wandbilder der Unterwelt. Sie zeigten Frauen und Kinder, die sich an den Händen hielten und tanzten. Er konnte es gar nicht abwarten, diese Malereien zu sehen,
sobald sie wieder hergestellt sein würden.
»Wann werdet Ihr den alten Turm wieder einweihen,
Vater?«
»Morgen nacht, mein Sohn. Dann haben wir Voll
mond, und der Narrenturm muß in besonderem Einklang
mit dem Mond stehen.«
»Ach!« murmelte Morgenstern hart. »Was treibt das
dumme Ding denn da schon wieder?«
Axis und der Sternenströmer sahen sie überrascht an,
aber sie blickte weiter angestrengt durch die offene Zelttür nach draußen: »Imibe sollte auf Caelum aufpassen,
solange er sein Mittagsschläfchen hält. Aber da läuft sie
schon wieder fort, um ihren Mann bei den Reiterspielen
zu bewundern. Ich gehe jetzt besser und sehe nach dem
Knaben. Aschure besucht heute nachmittag die Verwundeten im Feldlazarett.«
»Nein, laßt mich gehen, Großmutter«, erbot sich Axis.
»Ich weiß doch, wie gern Ihr Euch diese Bücher anschauen möchtet, und Ihr wißt auch, wie gern ich etwas
Zeit mit meinem Sohn verbringe.«
»Aber Euer Vater will sich mit Euch über die Zeremonie morgen abend unterhalten, und mir stehen noch einige Jahre zu Verfügung, in denen ich mich mit diesen
Wälzern beschäftigen kann.« Sie schaute ihm offen ins
Gesicht und fügte hinzu: »Und ich verbringe ebenso gern
Zeit mit Caelum wie Ihr.«
Der Krieger gab nach. Später sollte ihn diese Entscheidung in seinen Alpträumen verfolgen. Was wäre
geschehen, wenn er an diesem sonnigen Nachmittag zu
seinem Zelt gegangen wäre, um nach seinem Sohn zu
sehen?
Morgenstern lächelte Sohn und Enkel zum Abschied
zu – und trat mitten hinein in die Prophezeiung.
Die Zauberin spürte sogleich, als sie in Axis’ und
Aschures Zelt trat, daß etwas nicht stimmte. Caelums
Wiege stand im Dämmerlicht einer entlegenen Ecke …
eine dunkle Gestalt beugte sich gerade darüber und griff
nach dem Kind.
»Wer seid Ihr?« fragte Morgenstern den Fremden mit
fester Stimme, und dieser fuhr zu ihr herum.
»Oh!« konnte sie nur noch krächzen und sich vor Entsetzen an die Kehle fassen. Dunkle Energie strömte auf
sie zu und hüllte sie ein.
Dunkle Magie. Dunkle Musik. Dagegen vermochte die
Zauberin nichts auszurichten.
»Wolfstern«, murmelte sie. »Ich frage mich schon
lange, in welcher Verkleidung Ihr auftretet.«
»Morgenstern«, sagte der Zauberer und bewegte sich
mit einem kalten Lächeln auf sie zu. Dabei veränderte er
sein Aussehen, bis er Wolfstern selbst war.
Wolfstern war von unglaublicher Schönheit. Er besaß
die violetten Augen der Sonnenflieger, hatte aber dunkelrotes Haar. Seine ganze Gestalt spiegelte die ungeheure Macht wider, von der er erfüllt war. Morgenstern
vermutete, daß er diese Macht aus einem anderen Universum mitgebracht hatte. Wie sollte Axis nur gegen
einen solchen Gegner antreten, dachte sie verzweifelt,
als Wolfstern vor ihr stehenblieb und mit zwei Fingern
ihr Kinn hob. Wie soll der Sternenmann nur gegen ihn
bestehen?
»Axis wird gegen mich antreten, wenn er mich gefunden hat, mein Täubchen«, sagte Wolfstern leise. »Aber
noch wird er mich nicht entdecken. Erst wenn ich es
zulasse. Doch bis dorthin habe ich in dieser Verkleidung
noch einiges zu erledigen.«
»Ich werde Euch nicht verraten«, flüsterte die alte
Frau.
»Ach, herzallerliebste Morgenstern, wie sollte Euch
das möglich sein? Euer Wissen wird in Euren Augen
stehen, und der Krieger oder der Sternenströmer werden
das früher oder später erkennen und aus Euch herauslocken. Mein Täubchen, Ihr habt gesehen, in welcher Tarnung ich auftrete und deswegen habt Ihr Euer Leben
verwirkt.«
Die Zauberin wimmerte leise.
»Oh, Ihr habt Angst.« Er legte die Hände links
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