Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
drinnen?«
Kenricke grinste verächtlich. »Der Bruderführer, seine
Berater und die meisten Brüder haben sich schon vor
Tagen in die Hauptstadt abgesetzt. Der Turm des … Der
Narrenturm wird nur noch von ein paar Greisen und einigen Novizen bewohnt. Sie erbitten von Euch nicht mehr,
als daß Ihr ihnen gnädig ihr Leben laßt.«
Der Krieger dachte einen Moment nach. »Ich möchte
mit ihrem Sprecher reden.«
Kenricke drehte sich um und gab einem der Soldaten
in der letzten Reihe ein Zeichen. Der Axtschwinger
klopfte an eine Tür, die im Turm eingelassen war. Nach
einer kurzen Weile öffnete sie sich, und ein älterer
Mönch huschte heraus.
»Bruder Boroleas!« Axis erkannte ihn wieder. So wie
Kenricke ihn im Gebrauch der Waffen unterwiesen hatte,
hatte Boroleas ihm das Lesen und Schreiben beigebracht.
»Ich bin gekommen, den Narrenturm zu beanspruchen.«
»Und ich bin gekommen, um das Leben der Insassen
zu bitten«, entgegnete der Mönch.
»Das sei Euch gewährt«, erklärte der Sternenmann.
»Und unsere Freiheit?«
»Zwanzig Soldaten geleiten Euch nach Nordmuth, wo
Ihr das nächste Schiff nach Koroleas besteigen werdet.«
»Und unsere Bücher?« fragte der Mönch noch, obwohl er kaum zu hoffen wagte, daß ihm auch dieser
Wunsch gewährt werden würde.
Der Krieger hatte nicht vor, zu viele Zugeständnisse
zu machen. »Ich habe Euch das Leben und die Freiheit
geschenkt, Boroleas. Bittet nicht auch noch um die Bücher. Ihr brecht sofort auf, und Ihr laßt alles zurück. Kenricke, überwacht Ihr bitte den Auszug der Brüder?«
Der Offizier nickte, und Axis betrachtete lange den
Narrenturm. Endlich war er sein.
23 M ORGENSTERN
Drei Tage nach der Entscheidungsschlacht hatte Axis’
Armee ihr Lager um die Ostspitze des Gralsees herum
aufgeschlagen. Bunte Banner flatterten am Ufer. Die
einen zeigten die Feldzeichen des jeweiligen Befehlshabers, die anderen das Wappen des Herkunftslandes,
doch am häufigsten war das goldene Banner des Sternenmannes zu sehen. Die Soldaten erholten sich in der
noch warmen Frühherbstsonne von den Anstrengungen
des Kampfes. Karlon blieb weiterhin unbehelligt, denn
Axis wollte den Seinen erst etwas Ruhe gönnen. Schiffe aus Nor waren eingetroffen und hatten die Männer
mit neuem Proviant versorgt. Den Hauptstädtern jedoch blieb nichts anderes übrig, als von den Mauern
aus Axis’ Soldaten dabei zuzusehen, wie sie frisches
Obst und knuspriges Brot verspeisten. Dann erlebten
sie die Rabenbunder bei einem rauhen Ballspiel, das
vom Pferderücken aus ausgetragen wurde. Und die
Ikarier, wie sie in die Luft aufstiegen und ihre Kunststücke vorführten.
Morgenstern und Sternenströmer bewohnten ein eigenes Zelt am Nordrand des Lagers. An diesem dritten
Tag hatte Axis sich zu ihnen gesellt und sah mit ihnen
die alten Bücher durch, welche die Ikarier aus dem
Narrenturm geborgen hatten. Der Krieger hatte befohlen, alle Werke der Bruderschaft zu verbrennen, doch
zur großen Freude der Zauberer hatten sich etliche
alte ikarische Bände gefunden, die die Brüder sicher
in Schränken und Truhen verschlossen aufbewahrt
hatten.
»Was wollte der Seneschall bloß mit diesen Schriften?« fragte Morgenstern, während sie in den kostbar
gebundenen Werken blätterte. »Gewiß haben die Brüder
sie doch nicht gelesen.«
Axis zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung,
warum diese Bände aufbewahrt wurden. Vielleicht war
das Wissen darum, was in diesen Büchern steht, längst
verloren gegangen. Vielleicht haben sie die Wälzer auch
beim Einzug in den Narrenturm vorgefunden, zur späteren Verwendung irgendwo untergebracht und dann vollkommen vergessen.«
Sein Vater wirkte ebenso aufgeregt wie Morgenstern.
»Axis! Dies sind in ihrer Mehrheit Werke, die wir für
immer verloren wähnten! Daß sie jetzt wieder vor uns
liegen … Seht nur, Mutter!« Er hielt ihr ein schmales
Bändchen hin, das er gerade einer Truhe entnommen
hatte. »Die Geschichte der Seen – ich dachte immer, das
Buch gäbe es nur in der Sage!«
Morgenstern starrte verwundert auf das Werk und
nahm es ihm aus der Hand. »Die Geschichte der Seen …
Bei den Göttern, habt Dank, Axis, für alles, was Ihr für
unser Volk getan habt.«
Der Krieger lächelte. Seit die heiligen Stätten den Vogelmenschen wieder offenstanden, erlebte er seine Großmutter von einer Seite, die er nie bei ihr vermutet hätte.
Erst heute morgen hatte er sie dabei erlebt, wie sie fröhlich mit Aschure lachte und schwatze,
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