Der Sternenwald
befürchten, wenn Estarra in die königliche Familie auf der Erde einheiratete. Auch die Hochzeit selbst begeisterte sie. Höchstpersönlich kümmerten sie sich um die Ausschmückung der Baumstadt für das Verlobungsfest, zierten Zweige mit bunten Blumen, Bändern und angebundenen Kondorfliegen. Uthair und Lia nickten weise – auch sie hielten die Heirat für eine gute Sache.
Mehr als jemals zuvor spürte Estarra das Bedürfnis, allein zu sein. Sie lief tief in den Wald, wie so oft als Mädchen. Sie wollte die Nebenwege des Weltwaldes erforschen und über die Pflichten nachdenken, die sie allein aufgrund ihrer Herkunft hatte.
Während ihrer sorglosen Kindheit waren die Weltbäume ein grandioses Geheimnis gewesen und sie hatte es immerzu erkunden, in jede grüne Ecke sehen wollen. Ihre Entdeckungen hatte sie mit ihrem Bruder Beneto geteilt, dem einzigen anderen Familienangehörigen, der das Wunder des Waldes sah.
Als Estarra einen hohen, einladend aussehenden Weltbaum erreichte, kletterte sie an den sich überlappenden Rindenschuppen nach oben und achtete darauf, die in Ritzen wachsenden Schösslinge nicht zu beschädigen. Wenn sie im Flüsterpalast wohnte, war sie sicher gezwungen, feine Gewänder mit Schmuck zu tragen und an Empfängen und dergleichen teilzunehmen. Würde sie jemals wieder Gelegenheit erhalten zu laufen, zu klettern und zu erforschen? Vermutlich würde sie das mehr vermissen als alles andere.
Hoch oben nahm Estarra auf weichen Blattwedeln Platz, das Gesicht dem blauen Himmel und dem Sonnenschein zugewandt. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, genoss die kühle Brise und konnte gut verstehen, warum die grünen Priester gern ihre Zeit hier oben verbrachten.
»Ich habe damit gerechnet, dass du kömmst, Estarra. Die Bäume haben mir gesagt, dass ich hier auf dich warten soll.«
Estarra erschrak und verlor den Halt, aber die Zweige schienen sich ihr wie Arme entgegenzustrecken, um sie festzuhalten. Sie drehte sich um und sah den narbigen Rossia mit überschlagenen Beinen auf einer Plattform aus großen Blattwedeln. Wachsam blickte er zum Himmel hoch, sah sie dann aus seinen runden Augen an. Wenige Sekunden später huschte sein Blick erneut nach oben.
»Ich wollte allein sein, Rossia.«
Der grüne Priester lachte leise. »Die Bäume haben Milliarden von Augen. Wo könntest du dich verbergen?«
Dieser Hinweis vermittelte Estarra sonderbaren Trost und sie setzte sich neben Rossia. »Kennst du die Neuigkeiten? Ich soll zur Erde fliegen und König Peter heiraten.«
Der Priester verneigte sich scherzhaft. »Es ist mir eine Ehre, mit einer Königin zu sprechen.«
»Du scheinst dich wie alle anderen zu freuen, Rossia.«
»Du nicht?« Der grüne Priester richtete einen durchdringenden Blick auf sie und vergaß, den Himmel zu beobachten.
»Es war nicht meine Entscheidung. Niemand hat mich gefragt. Würde dich das nicht stören?«
»Wahrscheinlich schon. Aber lassen wir das einmal beiseite. Du bist eine Tochter der Familie, die Theroc regiert. Dein ganzes Leben lang hast du gewusst, dass so etwas einmal geschehen würde.
Gibt es einen Grund, warum du mit König Peter als deinem zukünftigen Gemahl unzufrieden sein solltest, oder bist du nur widerspenstig?«
»Ich habe mir etwas mehr Anteilnahme von dir erhofft, Rossia.«
»Die kannst du woanders suchen.« Er rieb sich die helle Narbe am Bein. »Du denkst nicht, Estarra, du reagierst nur. Ich verstehe, dass dich die plötzliche Veränderung verunsichert und auch verärgert, aber ich weiß auch, dass du nicht in irgendeinen anderen jungen Mann verliebt bist. Warum solltest du König Peter nicht eine Chance geben?«
Estarra sah zum Himmel hoch und half Rossia dabei, nach fliegenden Raubtieren Ausschau zu halten. Derzeit wäre ihr eines der Fleisch fressenden Insekten lieber gewesen als Rossias tadelnde Worte. »Aber ich liebe ihn nicht!«
»Ach, Liebe. Die kann man lernen. Du bist eine intelligente junge Frau.« Rossia legte eine kurze Pause ein und hob den Blick. Estarra erinnerte sich daran, mit ihren Großeltern ein ähnliches Gespräch geführt zu haben.
»Du wirst die Erde besuchen, das Herz der menschlichen Zivilisation, den Geburtsort unseres Volkes«, fuhr der grüne Priester schließlich fort. »Du wirst den attraktiven jungen Peter heiraten und im Flüsterpalast wohnen, umgeben von Luxus. Vielleicht bekommst du die Möglichkeit, Einfluss auf mehr Leben zu nehmen als jede andere Frau in deinem Alter. Du kannst ein Licht für alle
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