Der Sternenwald
einem Designierten vergleichen ließ. Die Zuhörer murmelten verwundert, als er erzählte, wie der Rattenfänger die Kinder fortführte und nur einen lahmen Jungen zurückließ.
»Geschah das wirklich?«, fragte ein Beamter. Er stand neben einer schönen, kahlköpfigen Frau, deren Gesicht bunte Muster aufwies. »Ist das ein historisches Ereignis?«
»Nein, nur eine Geschichte.«
Dieser Hinweis verwirrte das Publikum noch mehr. »Aber wie kann eine Geschichte nicht wahr sein?«
»Sie ist wahr, auf einem gewissen Niveau. Die in ihr zum Ausdruck kommende Moral hat für alle Menschen Gültigkeit, auch für Ildiraner. Auf der Erde erfinden wir manchmal Geschichten, zur Unterhaltung oder um neue Denkweisen zu erproben. Die Wahrheit dieser Geschichten liegt nicht immer im Detail, sondern in der Botschaft.« Anton lächelte und wölbte die Brauen. »Die Geschichte vom Rattenfänger hat Ihnen gefallen, nicht wahr?«
»Menschen sehen Geschichten anders«, erläuterte Vao’sh. »Wir haben unsere Saga der Sieben Sonnen, doch bei den Menschen gibt es viele Geschichten, die nicht miteinander verbunden sind. Kein Mensch kennt den größeren Rahmen, in den sie alle hineinpassen, nicht einmal Erinnerer Anton.«
Um die Verwirrung der Zuhörer zu lindern, erzählte Vao’sh eine humorvolle Geschichte, die Anton sehr gefiel. Der menschliche Gelehrte hatte bereits amüsante Parabeln und Märchen zum Besten gegeben, von »Androklus und der Löwe« bis hin zu »Rotkäppchen«. Die Urlauber auf Maratha waren Erwachsene, aber ihre Faszination machte sie zu Kindern. Für die Ildiraner war jede seiner Geschichten vollkommen neu.
Später machten die beiden Historiker einen angenehmen Spaziergang. An jedem Tag widmete Anton mehrere Stunden dem Studium der Saga der Sieben Sonnen, aber er verbrachte auch viel Zeit mit dem Erinnerer und erfuhr dabei mehr über die ildiranische Kultur.
Er stellte sich vor, wie er schließlich zur Erde zurückkehrte, mit einem Wissen, über das kein anderer Gelehrter verfügte. Von den gegenwärtigen Forschungsarbeiten konnte er während des ganzen Rests seiner beruflichen Laufbahn zehren, indem er Artikel für Fachzeitschriften schrieb und Sammlungen der besten ildiranischen Geschichten herausgab.
Vao’sh führte ihn nun durch Marathas Seitenstraßen zu den schlichten Gemeinschaftsgebäuden wo Bedienstete, Köche und Wartungstechniker dicht gedrängt lebten und arbeiteten. »Die Saga der Sieben Sonnen gehört allen Ildiranern. Sie enthält Details und Nuancen, die es mir erlauben, allen Geschlechtern Bedeutsames mitzuteilen.«
Sie betraten einen Transferraum am Rand der Kuppel. »Ich bringe Sie jetzt nach draußen und zeige Ihnen, warum so viele Ildiraner hierher kommen«, sagte Vao’sh voller Aufregung.
Mit der Hilfe des Erinnerers legte Anton einen dünnen, aber sehr widerstandsfähigen Anzug aus silbrigem Film an. Vao’sh zeigte ihm, wie man die glatte Membran, die sich allen Konturen anpasste, über den Mund zog. Die Schutzbrille vor den Augen war so dunkel, dass er kaum etwas sehen konnte. Anton trat an die nach draußen führende Luke heran und nahm einen tiefen Atemzug durch die Membran.
Die Luke schwang auf und Licht und Hitze schlugen ihm wie eine goldene Welle entgegen. Zuvor war er durch die schwarze Brille fast blind gewesen. Jetzt blinzelte er überrascht, als er völlig klar eine kontrastreiche Landschaft aus schwarzen und scharlachroten Felsen sah, eine lohfarbene Wüste, in der hier und dort das Becken eines ausgetrockneten Sees glitzerte.
Hinter ihnen glänzten die Kuppeln wie geschliffene Diamanten in einer goldenen Hemisphäre, die das grelle Sonnenlicht empfing und zum Himmel zurückwarf. Ildiraner in silbriger Kleidung standen auf Plattformen und Baikonen, spielten ein Spiel mit weichen, kupferfarbenen Bällen, die sie sich gegenseitig zuwarfen.
»Ich komme mir vor wie eine Ameise unter einem Vergrößerungsglas«, sagte Anton. Er konnte sich kaum vorstellen, dass Ildiraner hierher kamen, um sich zu entspannen. »Wie halten Sie so viel Licht aus?«
»Es ist wundervoll, nicht wahr?« Sie schritten über den heißen Boden und näherten sich einem tiefen, dampfenden Riss in Marathas Kruste. »Vielleicht werde ich Ihre Prinzipien der Unterhaltung nie ganz verstehen, aber die Schluchten dürften Ihnen gefallen. Ihre Tiefen bleiben immer dunkel, selbst am hellsten Tag.«
Inzwischen waren die beiden Historiker zu guten Freunden geworden. Die Unterschiede zwischen ihnen boten immer
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