Der Sternenwald
wieder Anlass zu Erstaunen, Erheiterung und auch Konsternation. Aber es gab auch einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, insbesondere auf einem elementaren biologischen Niveau.
Nach dem ersten Kontakt mit den Generationenschiffen hatten sich einige Ildiraner gefragt, ob die Menschen ein verlorener Faden ihres galaktischen Epos waren. Aber selbst als ildiranische Erinnerer von der Geschichte der Erde erfuhren, blieben sie verwirrt. Auf sie wirkten die Bemühungen der Menschen zusammenhanglos und unkonzentriert. Die Berichte über Nationen und Völker enthielten zu viele unterschiedliche »Handlungsstränge«, präsentierten ein rätselhaftes Durcheinander aus trivialen und sinnlosen Abenteuern, die Aufstieg und Fall kleiner, letztendlich unbedeutender Reiche beschrieben. Die ildiranischen Erinnerer glaubten, dass die Menschen den Kontakt mit ihrer eigenen Geschichte – mit der menschlichen Saga – verloren hatten.
Am Rand der Schlucht führte ein steiler Weg in die schattige Tiefe. Von unten stiegen Wolken auf und wurden von turbulenten Luftströmungen zerfasert.
Anton schnaufte, als sie dem Verlauf des steilen Wegs folgten. Die Temperatur blieb viel zu hoch und die Luftfeuchtigkeit schien den Atemfilm zu durchdringen.
In Ritzen und Spalten wuchsen Pflanzen, die aussahen wie gepanzerte, aus ihrer Schale kriechende Krustentiere. Die aus Quarz bestehenden Blüten der perlweißen Mollusken wirkten wie Seeanemonen. Einige Blütenblätter klackten und breiteten sich wie Fächer aus. Kleine mückenartige Geschöpfe flogen in den Dunstwolken und die hungrigen Blüten fingen sie.
Vao’sh berührte eine der Blumen, die sich sofort schloss und in ihren Stängel zurückwich, sich in der perlweißen Schale verbarg. »Wir nennen sie Ch’kanh, lebende Festungen. Wenn die Nacht beginnt, kapseln die Blumen ihr empfindliches Gewebe ein und verbringen die kalte Dunkelheit in der Hibernation.«
Weiter unten staunte Anton darüber, wie dicht die gepanzerten Anemonen wuchsen. Die harten Blumen wurden anderthalb Meter lang, neigten sich gespenstisch still hin und her. Er lächelte hinter dem Atemfilm. »Ist es nicht erstaunlich, was manche Geschöpfe anstellen, um zu überleben?«
»Verzweiflung führt oft zu faszinierender Innovation«, erwiderte Vao’sh.
Als sie schließlich durch einige Lagerräume in die Stadt zurückkehrten, begegneten sie fünf Klikiss-Robotern, die ebenfalls von draußen kamen. Sie bewegten sich synchron. Ihre geometrischen Köpfe drehten sich und die optischen Sensoren glühten rot.
Anton beobachtete die Roboter, als er den Film des Schutzanzugs abstreifte. »Sie sind gerade von der Nachtseite des Planeten zurückgekehrt, von der Arbeit an Maratha Secda«, sagte Vao’sh. »Viele Klikiss-Roboter arbeiten dort im Dunkeln.«
Anton legte die Schutzbrille beiseite und rieb sich das schweißfeuchte Gesicht. »Wie weit liegt die Baustelle auf der anderen Seite?«
»Ildiranische Inspektionsgruppen werden sich erst dann ein Bild davon machen, wenn das Tageslicht den Bauplatz erreicht. Nach Auskunft der Roboter sollte die Hauptkuppel vor dem Ende des nächsten vollen marathanischen Tageszyklus fertig gestellt sein.«
Die schwarzen Roboter betraten einen Wartungsraum. Zwei der insektenartigen Maschinen verschwanden durch Luken, die zu den Energie erzeugenden Schächten führten – sie schienen Zugang zu jedem beliebigen Bereich zu haben. »Soll das heißen, sie bauen Ihre Stadt ganz allein, ohne Aufsicht?«
Die Frage überraschte Vao’sh. »Kein Ildiraner würde die dunkle Seite aufsuchen, aber die Roboter arbeiten auch während der Nacht.« Er lächelte und versuchte, seinen menschlichen Begleiter zu überzeugen. »Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeiten die Roboter und haben sich immer genau an unsere Pläne gehalten.«
Eine Idee erhellte Antons Gesicht. »He, was halten Sie davon, wenn wir uns Secda ansehen? Sie, ich und vielleicht einige neugierige Gäste – wir bilden eine Inspektionsgruppe.«
Vao’sh blieb skeptisch. »Tausende von Ildiranern kommen jedes Jahr hierher, um das ständige Tageslicht zu genießen. Und Sie möchten eine leere Stadt im Dunkeln besuchen?«
Anton klopfte ihm auf die Schulter. »Ja! Klingt verlockend, nicht wahr?«
79 ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Von Zweifeln geplagt befasste sich Jora’h mit dem ihm enthüllten geheimen Teil der ildiranischen Geschichte. Vor Jahren hatte er die großen, eindrucksvollen Weltbäume auf Theroc gesehen und ihr pulsierendes Bewusstsein
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