Der Sternenwald
Kurze Furcht ließ sie zögern. Deutliche Empfindungen kamen von der Person: ein sich wund anfühlender Körper; Kopfschmerzen von langem Weinen; Augen, die brannten, weil sie so lange zur Residenz des Designierten gesehen hatten. Auf der Suche nach ihr…
Als sie sich näherte, spürte Osira’h eine Verbindung mit der Gefangenen… mit der menschlichen Frau…
Eine jähe Erkenntnis offenbarte sich ihr. Die Frau war ihre Mutter!
Osira’h erstarrte, als sie das begriff und die Gedanken der grünhäutigen Frau empfing, die hinter den Zäunen lebte, arbeitete, Geschlechtsverkehr mit Ildiranern erdulden musste und Kinder gebar.
Nach einigen Sekunden setzte sich Osira’h wieder in Bewegung und war ebenso verwirrt wie aufgeregt. Ihre Mutter erwies sich als hager und drahtig. Das Mädchen sah eingefallene Wangen und tief in den Höhlen liegende Augen, darunter dunkle Ringe. Doch plötzlich erhellte sich das Gesicht der Frau. »Meine Prinzessin! Meine Tochter!« Ihr kamen die Tränen, als das Mädchen auf der anderen Seite des Zauns stehen blieb.
»Warum bist du hier?«, fragte Osira’h. »Du bist meine Mutter und solltest nicht im Zuchtlager sein. Warum hilfst du dem Designierten nicht bei meiner Ausbildung?«
Nira streckte eine schwielige grüne Hand durch den Zaun und berührte die Wange ihrer Tochter. »Du bist so schön… mein kleines Mädchen. Jora’h wäre stolz auf dich.« Niedergeschlagen fügte sie hinzu: »Ich glaube, er weiß nicht einmal, dass er eine Tochter hat.«
»Ich wurde geboren, um das Ildiranische Reich zu retten.«
»Nein. Liebe hat dich gezeugt, aber ich wurde gefangen genommen und hierher gebracht. Ich konnte dich nur einige Monate nach deiner Geburt pflegen, dann trennte man mich von dir. Ich wollte bei dir belieben, aber man hielt mich hier fest und ich musste… schreckliche Dinge ertragen. Man hat dich getäuscht.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Osira’h. »Du verstehst nicht.«
Ein mattes, aber aufrichtiges Lächeln erschien auf Niras Lippen, als ihre Hand über die Wange des Mädchens strich. Osira’h spürte, wie das Band zwischen ihnen fester wurde, sah Echos von Gedanken und schmerzlichen Erinnerungen, die nicht ihr gehörten. »Natürlich verstehe ich, mein kleines Mädchen. Der Designierte erzählt dir nur das, was du wissen sollst, und es ist nicht die ganze Wahrheit. Du bist sein Werkzeug, seine Trophäe.«
Trotz und Ärger regten sich in Osira’h. Der Umgang mit ihren telepathischen Fähigkeiten war ihr noch nie so leicht gefallen wie jetzt, aber es widerstrebte ihr, mehr auf diese Weise herauszufinden. »Meine Aufgabe besteht darin, das Ildiranische Reich zu retten! Nur ich kann eine Brücke zu den Hydrogern bauen und einen dauerhaften Frieden vereinbaren.«
Nira wirkte skeptisch. Die Tätowierungen in ihrem Gesicht bestanden aus dunklen, narbenartigen Linien. »Meinst du einen Frieden für Menschen, Ildiraner und Hydroger? Oder geht es nur um ein Bündnis, das das Ildiranische Reich auf Kosten meines Volkes retten soll?« Sie schüttelte den Kopf. »Was sage ich da? Du bist nur ein Kind. Von solchen Dingen kannst du nichts wissen.«
»Das kann ich sehr wohl! Die besten Lehrer haben mich jahrelang unterrichtet. Die fähigsten Mentalisten und Priester des Linsen-Geschlechts haben mir dabei geholfen, meinem Bewusstsein Struktur zu geben. Der Designierte meint, das Niveau meiner Intelligenz, meines Wissens und meiner Reife sei mindestens so hoch wie bei doppelt so alten Kindern. Dass muss es auch sein, denn uns bleibt nur wenig Zeit.« Osira’h sprach so, als wiederholte sie auswendig gelernte Sätze.
Nira runzelte enttäuscht die Stirn und senkte den Kopf. »Es tut mir so Leid, Osira’h. Als ich damals von meiner Schwangerschaft erfuhr… Ich war sicher, dass dich der Erstdesignierte im Prismapalast aufwachsen lassen würde. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du um deine Kindheit betrogen und auf diese Weise benutzt wirst. Oh, was für ein grässliches Schicksal! Und du weißt nicht einmal, welche schrecklichen Dinge man dir angetan hat.«
Osira’h spürte, dass ihre Mutter nicht log, aber trotzdem sträubte sie sich dagegen zu glauben, dass Nira die Wahrheit sagte. Es hätte bedeutet, all die Dinge in Zweifel zu ziehen, die der Designierte sie gelehrt hatte. »Aber ich…« Ihre Stimme zitterte. »Ich bin die große Hoffnung des Weisen Imperators.«
»Dann hör mir zu, Osira’h. Wenn du eine so wichtige Rolle erfüllst, sollte dir klar sein,
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