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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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Leutnant stand. Zu sechst stiegen wir ein, und der Soldat begann das Boot mit einer langen Stange zum anderen Ufer hinüberzustoßen, aber wir liefen auf eine Untiefe, die von Menschenleibern gebildet wurde, und blieben stecken. Der Mann stieß mit seiner Bootsstange zu, trieb sie in diesen Menschenbrei hinein, und eine Leiche löste sich, tauchte auf und schwamm, wie ein Badender, der sich an der Wasseroberfläche sonnt, in voller Länge neben dem Boot dahin. Dann kamen wir wieder los, und als wir endlich das jenseitige Ufer erreichten, kletterten wir heraus, ohne rückwärts zu schauen. Nicht ein einziger Schuß war gefallen: Wir lebten noch; der Tod hatte sich zurückgezogen, bis zum nächsten Kanal vielleicht. Ich hörte, wie gleich hinter mir jemand in feierlichem Ernst auf deutsch sagte »Gott sei Dank«. Abgesehen vom Leutnant bestand fast die ganze Gruppe aus Deutschen.
    Vor uns lagen die Gebäude eines Bauernhofs. Der Leutnant betrat, eng an die Hauswand gepreßt, als erster das Gehöft, und wir folgten ihm im Gänsemarsch und jeweils in Abständen von etwa zwei Metern. Wieder ohne einen Befehl verteilten sich die Männer über den ganzen Hof. Das Leben war daraus geflohen – nicht eine einzige Henne hatte man zurückgelassen; nur zwei abscheuliche Öldrucke hingen an den Wänden der einstigen Wohnstube, von denen der eine das Heiligste Herz Jesu darstellte, der andere die Heilige Maria mit dem Christuskind, was dem ganzen baufälligen Anwesen etwas Europäisches gab. Man wußte, woran diese Leute glaubten, selbst wenn man ihren Glauben nicht teilte: Sie waren menschliche Wesen, nicht bloß graue, ausgeschwemmte Kadaver.
    Der Krieg besteht so oft aus Herumsitzen und Nichtstun, daraus, auf andere zu warten. Wenn man keinerlei Sicherheit hat, wieviel Zeit einem noch bleibt, erscheint es nicht der Mühe wert, auch nur mit einer Gedankenkette zu beginnen. Die Wachtposten taten, was sie vorher schon so viele Male getan hatten, und gingen hinaus vor den Bauernhof. Was immer sich nun vor unserer Front regte, galt als Feind. Der Leutnant machte eine Eintragung in seine Karte und meldete unsere Stellung durch das Funkgerät. Fast mittägliche Stille senkte sich herab: Sogar die Granatwerfer waren verstummt, und kein Flugzeug zeigte sich am Himmel. Ein Soldat kritzelte mit einem Zweig sinnlose Figuren in den Schmutz des Hofes. Nach einer Weile war es, als ob uns der Krieg vergessen hätte. Ich hoffte, daß Phuong meine Anzüge in die Putzerei geschickt hatte. Ein kalter Windstoß wirbelte das Stroh im Hof umher. Einer der Soldaten verschwand diskret hinter einer Scheune, um sich zu erleichtern. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich vor meiner Abreise dem britischen Konsul in Hanoi eine Flasche Whisky bezahlt hatte, die mir von ihm überlassen worden war.
    Zwei Schüsse fielen vor uns, und ich dachte: Das ist es! Jetzt kommt es! Eine deutlichere Warnung brauchte ich nicht. In freudiger Erregung erwartete ich die Unendlichkeit.
    Aber nichts geschah. Wieder einmal hatte ich das Ereignis »übervorbereitet«. Erst nach endlos scheinenden Minuten kam einer der Posten herein und erstattete dem Leutnant eine Meldung, aus der ich die Worte »Deux civils« heraushörte.
    »Gehen wir nachsehen«, sagte der Leutnant zu mir. Wir folgten dem Soldaten und bahnten uns auf einem schmutzigen, von Unkraut überwucherten Pfad, der zwischen zwei Feldern verlief, einen Weg. Etwa zwanzig Meter hinter dem Gehöft stießen wir in einem schmalen Graben auf das, was wir suchten: eine Frau und einen kleinen Jungen. Beide waren ohne Zweifel tot. Auf der Stirn der Frau war ein winziges, klar umgrenztes Fleckchen geronnenen Bluts, und das Kind sah aus, als schliefe es. Es mochte etwa sechs Jahre alt gewesen sein, und es lag da, die knochigen Knie hoch hinaufgezogen, wie ein Embryo im Mutterleib. »Malchance«, sagte der Leutnant. Er beugte sich hinab und drehte das Kind um. Es trug um den Hals ein Heiligenmedaillon, und ich sagte mir: »Das Amulett wirkt nicht.« Ein angenagtes Stück Brot lag unter seiner Leiche. Ich hasse den Krieg, dachte ich.
    »Na, haben Sie genug?« sagte der Leutnant. Er sprach in grimmigem Ton, fast so, als sei ich für diese Toten verantwortlich zu machen. Vielleicht ist für den Soldaten der Zivilist jene Person, die ihn zum Töten anstellt, die die Mordschuld in den Sold mit einschließt und auf solche Weise sich selbst der Verantwortung entzieht. Wir gingen schweigend zu dem Bauernhof zurück und setzten uns auf das

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