Der stille Amerikaner
Hälfte der Bevölkerung ausmachten – wollten sich diesen Spaß nicht entgehen lassen, und jene, die weder an Gott noch an Buddha glaubten, dachten, daß irgendwie die vielen Banner und Weihrauchfässer und die goldene Monstranz den Krieg von ihrem Heim fernhalten würden. Das letzte Überbleibsel der bischöflichen Armee – die Musikkapelle – führte die Prozession an, ihr folgten die französischen Offiziere, die auf Befehl ihres Obersten mit frommer Miene gleich Chorknaben durch das große Tor auf den Domplatz zogen, vorüber an der weißen Statue des Heiligsten Herzens Jesu, die auf einer Insel in dem kleinen See vor dem Dom stand, unter dem Glockenturm mit seinen ausladenden, orientalisch geschwungenen Dächern vorbei und in den mit Schnitzereien reich verzierten Holzbau des Doms, dessen gigantische Säulen aus je einem einzigen Baumstamm bestanden und dessen Altar, in scharlachroter Lackarbeit gehalten, eher buddhistisch als christlich wirkte. Aus allen Dörfern zwischen den Kanälen, aus jener holländisch anmutenden Landschaft, wo junge grüne Reissprößlinge und goldene Erntefelder den Platz der Tulpen einnehmen und Kirchen jenen der Windmühlen, strömte das Volk zusammen.
Niemand bemerkte die Agenten der Vietminh, die sich ebenfalls der Prozession angeschlossen hatten; und als in der folgenden Nacht die Hauptstreitmacht der Kommunisten, wohl beobachtet von den hilflosen französischen Vorposten auf den Bergeshöhen, durch die Paßübergänge im Calcaire in die Ebene von Tonkin vorrückte, schlug das Vorkommando ihrer Agenten in Phat Diem zu.
Jetzt, nach viertägigem Ringen, war der Feind dank des Einsatzes von Fallschirmjägern eine halbe Meile rund um die Stadt zurückgedrängt worden. Das war eine Niederlage: Keine Kriegsberichterstatter wurden zugelassen, keine Telegramme konnten abgesandt werden; denn die Zeitungen durften nur Siege melden. Die Behörden würden mich in Hanoi festgehalten haben, wenn sie von meiner Absicht gewußt hätten. Aber je weiter man sich vom Hauptquartier entfernt, desto lockerer wird die Überwachung, bis man schließlich, wenn man in die Reichweite des feindlichen Feuers vordringt, zum willkommenen Gast wird – was für den Etat-Major in Hanoi eine Bedrohung gewesen ist, und für den Oberst in Nam Dinh eine Sorge, bedeutet für den Leutnant im Feld einen Scherz, eine Zerstreuung, einen Beweis für das Interesse der Außenwelt, so daß er für ein paar gesegnete Stunden sich selbst ein bißchen dramatisieren und sogar die Verwundeten und Gefallenen in seinen eigenen Reihen in einem falschen heroischen Licht sehen kann.
Der Priester schloß sein Brevier und sagte: »Also, das wäre erledigt.« Er war Europäer, aber kein Franzose, denn der Bischof hätte in seiner Diözese keinen französischen Geistlichen geduldet. Entschuldigend sagte er: »Ich muß hier heraufkommen, verstehen Sie, um von all den armen Menschen dort unten ein wenig Ruhe zu haben.« Das Krachen der Granatwerfer schien näherzurücken, oder vielleicht erwiderte der Feind endlich das Feuer der Franzosen. Das Schwierigste war seltsamerweise, ihn aufzuspüren: Es gab ein Dutzend schmaler Fronten, und zwischen den Kanälen, in den Bauernhöfen und Reisfeldern, boten sich unzählige Gelegenheiten zu einem Hinterhalt.
Unmittelbar zu unseren Füßen stand, saß und lag die gesamte Bevölkerung von Phat Diem. Katholiken, Buddhisten, Heiden; sie alle hatten ihre wertvollste Habe – einen Kochherd, eine Lampe, einen Spiegel, einen Kleiderschrank, etliche Matten, ein Heiligenbild – zusammengepackt und waren damit in den umfriedeten Domplatz gezogen. Hier im Norden wurde es bei Einbruch der Dämmerung bitter kalt, und die Kirche war bereits voll von Menschen: es gab kein schützendes Dach mehr; selbst auf den Treppen, die hinauf zum Glockenturm führten, war jede Stufe besetzt, und ständig drängten sich weitere Flüchtlinge, mit kleinen Kindern und Hausgeräten beladen, durch die Tore. Was immer ihre religiöse Überzeugung sein mochte, hier glaubten sie sich in Sicherheit. Während wir diese Szene betrachteten, schob sich ein junger Mann in vietnamesischer Uniform und mit einem Gewehr in der Hand durch die Massen: Ein Priester hielt ihn an und nahm ihm die Waffe ab. Der Geistliche an meiner Seite sagte zur Erklärung: »Wir sind hier neutral. Dies ist das Territorium Gottes.« Ich dachte: Es ist eine sonderbare, arme Bevölkerung, die Gott in seinem Königreich hat, verschüchtert, frierend und hungernd
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