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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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tragbaren Funksprechgeräts aufragten, sagte: »Wir können jetzt losmarschieren«, und alle erhoben sich.
    In meinem gebrochenen Französisch fragte ich sie, ob ich sie begleiten dürfe. Dieser Krieg hatte den Vorteil, daß ein europäisches Gesicht an sich schon ein Passierschein für das Kampfgebiet war: Ein Europäer konnte nicht in Verdacht kommen, ein feindlicher Agent zu sein. »Wer sind Sie?« fragte der Leutnant.
    »Ich berichte über den Krieg«, sagte ich.
    »Amerikaner?«
    »Nein, Engländer.«
    Er sagte: »Es ist ein sehr kleines Unternehmen, aber wenn Sie mitkommen wollen …« Er begann, seinen Stahlhelm abzunehmen. »Nein, nein«, sagte ich, »der ist für die Kämpfenden.«
    »Wie Sie wünschen.«
    In Schützenreihe gingen wir hinter der Kirche hinaus, der Leutnant an der Spitze. Am Ufer eines Kanals machte er für einen Augenblick halt, damit der Funker mit den Patrouillen an unseren beiden Flanken Verbindung aufnehmen konnte. Die Geschosse der Granatwerfer brausten über uns hinweg und schlugen außer Sichtweite ein. Hinter der Kirche hatten sich uns weitere Soldaten angeschlossen, so daß wir jetzt etwa dreißig Mann stark waren. Mit leiser Stimme erklärte mir der Leutnant, während er immer wieder mit dem Finger auf die Karte losstach: »Dreihundert sind aus diesem Dorf hier gemeldet worden. Sie massieren sich vielleicht zu einem Angriff heute nacht. Wir wissen es nicht. Niemand hat sie bis jetzt entdeckt.«
    »Wie weit ist das?«
    »Etwa dreihundert Meter.«
    Über Funk kam ein Befehl, und wir brachen schweigend auf. Rechts von uns verlief ein schnurgerader Kanal, links lagen niedriges Buschwerk, Felder und wiederum Buschwerk. »Die Luft ist rein«, flüsterte der Leutnant und winkte uns beruhigend zu, als wir uns in Bewegung setzten. Vierzig Meter weiter verlief ein zweiter Kanal mit den Resten einer Brücke, einer einzigen Planke ohne Geländer, quer zu unserer Marschrichtung. Durch ein Zeichen forderte uns der Leutnant auf, Schützenkette zu bilden. Dann kauerten wir uns auf dem Boden hin, den Blick auf das unbekannte Gelände gerichtet, das jenseits der Planke nur zwölf Meter vor uns lag. Die Männer schauten ins Wasser und wandten sich wie auf ein Kommandowort alle zugleich wieder ab. Zunächst sah ich nicht, was sie gesehen hatten, doch als ich es sah, kehrten meine Gedanken, ich weiß nicht, weshalb, zum »Chalet«, zu den Frauenimitatoren und zu den jungen pfeifenden Offizieren zurück, und zu Pyles Worten: »Das ist doch ganz und gar unpassend.«
    Der Kanal war voll von Leichen: Heute fällt mir dazu ein Irish-Stew ein, das zuviel Fleisch enthält. Die Toten lagen übereinander: ein Kopf, grau wie ein Seehund und so namenlos wie ein Sträfling mit kahlgeschorenem Schädel, ragte gleich einer Boje aus dem Wasser heraus. Blut war nicht zu sehen: das war wohl längst davongeflossen. Ich habe keine Ahnung, wie viele es waren: sie mußten bei dem Versuch, sich über den Kanal zurückzuziehen, ins Kreuzfeuer geraten sein, und ich glaube, jedermann an unserem Ufer dachte in diesem Augenblick: Was sie können, können wir auch. Ich wandte ebenfalls den Blick ab; wir wollten nicht daran erinnert werden, wie wenig wir zählten, wie rasch, wie einfach und wie namenlos der Tod kam. Obschon mein Geist den Zustand des Todes herbeisehnte, fürchtete ich mich wie eine Jungfrau vor dem Geschlechtsakt. Ich hätte es vorgezogen, wenn der Tod nach gehöriger Warnung gekommen wäre, damit ich mich hätte vorbereiten können. Doch worauf? Ich wußte es nicht, auch nicht wie, es sei denn, indem ich um mich blickte auf das wenige, das ich verlassen würde.
    Der Leutnant hockte neben dem Mann mit dem Funkgerät und starrte auf den Fleck Boden zwischen seinen Füßen. Das Instrument begann Befehle zu schnarren, und er erhob sich mit einem Seufzer, als sei er eben aus dem Schlaf gerüttelt worden. Allen Bewegungen dieser Truppe war eine seltsame Kameradschaftlichkeit eigen, wie wenn sie alle ranggleich gewesen wären und nun einen Auftrag ausführten, den sie schon unzählige Male miteinander erledigt hatten. Keiner wartete auf einen Befehl. Zwei Mann traten an die Planke heran und versuchten darüberzugehen, doch ihre schweren Waffen brachten sie aus dem Gleichgewicht; sie mußten sich rittlings auf das Brett setzen und sich Zoll um Zoll hinüberarbeiten. Ein anderer Soldat hatte ein flaches Boot entdeckt, das weiter unten am Kanal unter Büschen versteckt gelegen war, und brachte es zu der Stelle, wo der

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