Der stille Amerikaner
Sie, Thomas, auch.«
»Für mich nicht mehr.«
»Das war heute ein furchtbarer Schock. Aber Sie werden sehen, Thomas, in einer Woche haben wir die Geschichte vergessen. Wir sorgen auch für die Angehörigen.«
»Wir?«
»Wir haben nach Washington telegrafiert. Wir werden die Erlaubnis bekommen, einen Teil unserer Geldmittel dafür aufzuwenden.«
Ich unterbrach ihn: »Also im ›Vieux Moulin‹? Zwischen neun und halb zehn?«
»Wo immer sie wollen, Thomas.« Ich trat ans Fenster. Die Sonne war hinter den Dächern versunken. Der Rikschalenker wartete noch immer auf seinen Gast. Ich blickte zu ihm nieder, und er hob das Gesicht und sah zu mir herauf.
»Erwarten Sie jemand, Thomas?«
»Nein. Es gab da nur eine Stelle, nach der ich gesucht habe.« Um mein Verhalten zu bemänteln, las ich laut vor, das Buch hoch erhoben im Tageslicht.
»Ich saus’ durch die Straßen ganz achtlos dahin.
Die Leute, die starr’n und fragen, wer ich bin.
Überfahr’ ich so’n Kerl und brech’ ihm das Bein,
Ich bezahl’ doch den Schaden, mag er noch so groß sein.
Ein Glück, daß man Geld hat wie Heu, hei ho!
Ein Glück, daß man Geld hat wie Heu!«
»Ein komisches Gedicht ist das«, sagte Pyle etwas mißbilligend.
»Der Verfasser war ein Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, einer, der geistig erwachsen war. Von der Sorte gab es damals nicht viele.« Wieder blickte ich auf die Straße hinunter. Der Rikschafahrer war verschwunden.
»Ist Ihnen der Alkohol ausgegangen?« fragte Pyle.
»Nein, aber ich dachte nicht, daß Sie …«
»Vielleicht werde ich allmählich etwas lockerer. Ihr Einfluß«, sagte Pyle. »Ich habe das Gefühl, daß Sie mir gut tun, Thomas.«
Ich holte die Flasche und Gläser – ich vergaß eines von ihnen bei meinem ersten Gang, und dann mußte ich um Wasser nochmals zurückgehen. Alles, was ich an diesem Abend tat, brauchte sehr viel Zeit. Er sagte: »Wissen Sie, ich habe eine wunderbare Familie; aber vielleicht waren meine Leute ein wenig auf der strengen Seite. Wir besitzen eines jener alten Häuser in der Chestnut Street, rechter Hand, wenn Sie die Anhöhe hinaufgehen. Meine Mutter sammelt Glas, und mein Vater – wenn er nicht gerade seine alten Klippen erodiert – alle Manuskripte Darwins und Exemplare der ersten englandfeindlichen Verträge zwischen den einstigen amerikanischen Kolonien, deren er habhaft werden kann. Sie sehen also, daß sie in der Vergangenheit leben. Vielleicht hat deshalb York Harding einen solchen Eindruck auf mich gemacht. Er schien irgendwie den modernen Bedingungen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Mein Vater dagegen ist Isolationist.«
»Ich würde mich mit Ihrem Vater vielleicht recht gut verstehen«, entgegnete ich. »Ich bin nämlich auch Isolationist.«
Für einen stillen Menschen war Pyle an diesem Abend in gesprächiger Stimmung. Ich hörte nicht alles, was er sagte, denn ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich suchte mir einzureden, daß Heng andere Mittel zur Verfügung standen als das primitive und naheliegende. Doch ich wußte, daß man in einem solchen Krieg keine Zeit hat, wählerisch zu sein: Man nimmt die Waffe, die gerade zur Hand ist – die Franzosen die Napalmbombe, und Mr. Heng die Kugel oder das Messer. Ich sagte mir zu spät, daß ich nicht dazu geschaffen war, Richter zu sein – ich würde Pyle eine Weile reden lassen, und dann würde ich ihn warnen. Er konnte die Nacht in meiner Wohnung verbringen. Hier würden sie kaum eindringen. Ich glaube, er sprach gerade von seiner alten Amme – »sie stand mir tatsächlich näher als meine Mutter, und die Preiselbeerkuchen, die sie machte!« –, als ich ihm ins Wort fiel: »Haben Sie jetzt einen Revolver bei sich, ich meine, seit jener Nacht?«
»Nein, wir haben von der Gesandtschaft den Befehl erhalten …«
»Sie haben doch einen Sonderauftrag, nicht wahr?«
»Es hätte keinen Zweck – wenn sie mich erwischen wollten, könnten sie das jederzeit. Und außerdem bin ich blind wie ein Huhn. Im College nannten sie mich die Fledermaus – weil ich nur in der Dunkelheit ebensoviel, oder ebensowenig, sehen konnte wie die anderen. Als wir uns einmal nachts herumtrieben …« Wieder erzählte er drauflos. Ich kehrte ans Fenster zurück.
Auf der anderen Straßenseite wartete eine Rikscha. Ich war nicht sicher – sie sehen einander alle so ähnlich –, aber ich hatte den Eindruck, daß es jetzt ein anderer Fahrer war. Vielleicht hatte er wirklich einen Fahrgast. Der Gedanke kam mir, daß Pyle in der
Weitere Kostenlose Bücher