Der stille Amerikaner
Butter.
»Gehören Sie zur Gesellschaft von Monsieur Granger?« fragte er mich.
»Nein.«
»Ein Tisch für eine Person?« Da geschah es zum erstenmal, daß ich an die Zukunft dachte und an die Fragen, die ich vielleicht würde beantworten müssen. »Ja, für eine«, sagte ich, und es war beinahe so, als ob ich laut ausgesprochen hätte, daß Pyle tot war.
Das Restaurant bestand nur aus einem einzigen Raum, und Grangers Gesellschaft hatte einen großen Tisch ganz hinten; der patron gab mir ein kleines Tischchen dicht am Drahtgitter. In den Fenstern waren keine Glasscheiben, aus Angst vor den Splittern. Ich erkannte einige von Grangers Gästen, und ich verbeugte mich zu ihnen hin, ehe ich Platz nahm: Granger selbst blickte weg. Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen – nur ein einziges Mal seit jener Nacht, als Pyle sich verliebte. Vielleicht hatte irgendeine abfällige Bemerkung, die ich damals gemacht hatte, seinen Alkoholnebel durchdrungen, denn er saß mit finsterer Miene am Kopfende der Tafel, während Madame Desprez, die Gattin eines Verbindungsoffiziers, und Hauptmann Duparc vom Pressedienst mir zunickten und herüberwinkten. Außer ihnen saß noch ein kräftig gebauter Mann am Tisch, der, glaube ich, ein Hotelier aus Pnom Penh war, ferner eine junge Französin, die ich noch nie gesehen hatte, und zwei oder drei andere Gesichter, die mir in den verschiedenen Bars aufgefallen waren. Es schien ausnahmsweise eine ruhige Party zu sein.
Ich bestellte einen Pastis, weil ich Pyle eine Spanne Zeit gewähren wollte, in der er immer noch kommen konnte – Pläne gehen mitunter schief, und solange ich mit dem Dinner auf ihn wartete, konnte ich mir einbilden, ich hätte noch Zeit zur Hoffnung. Und dann fragte ich mich, worauf ich hoffte. Viel Glück dem O.S.S. oder wie sich seine Bande nannte? Auf ein langes Leben der Plastikbomben oder General Thé? Oder hoffte ich – ausgerechnet ich! – auf eine Art Wunder, auf eine von Mr. Heng eingeführte Methode der Auseinandersetzung, die nicht einfach mit dem Tod gleichbedeutend war? Wieviel leichter wäre es gewesen, wenn wir beide auf der Straße nach Tanyin ums Leben gekommen wären. Ich saß zwanzig Minuten bei meinem Pastis, dann bestellte ich das Dinner. Es war kurz vor halb zehn; jetzt kam er nicht mehr.
Gegen meinen Willen horchte ich: Worauf? Einen Schrei? Einen Schuß? Eine plötzliche Bewegung unter den Polizisten draußen auf der Brücke? Wahrscheinlich hätte ich ohnehin nichts gehört, weil Grangers Gesellschaft allmählich in Schwung kam. Der Hotelier, der eine angenehme, unausgebildete Stimme besaß, begann zu singen, und während der Korken einer Sektflasche knallte, fielen die anderen Gäste ein, ausgenommen Granger. Der saß da und starrte mit geröteten Augen grimmig zu mir herüber. Ich überlegte, ob es zu einer Rauferei kommen würde: Granger war ich nicht gewachsen.
Sie sangen ein sentimentales Lied, und während ich ohne Appetit auf den schwachen Ersatz eines Chapon duc Charles auf meinem Teller starrte, dachte ich beinahe zum erstenmal, seit ich sie in Sicherheit wußte, an Phuong. Es fiel mir ein, wie Pyle in der Erwartung der Vietminh auf dem Boden des Turmzimmers gehockt und gesagt hatte: »Taufrisch erscheint sie mir – wie eine Blume«, und ich frivol erwidert hatte: »Arme Blume!« Jetzt würde sie niemals Neu England sehen oder in die Geheimnisse des Canasta eingeweiht werden. Vielleicht würde sie nie eine gesicherte Existenz kennenlernen: Mit welchem Recht wollte ich sie geringer einschätzen als die Toten von der Place Garnier? Das Leid wächst nicht mit der Zahl: Ein Menschenleib kann all das Leid in sich schließen, das die ganze Welt empfinden mag. Ich hatte wie ein echter Journalist nur nach Begriffen der Menge geurteilt und war meinen eigenen Grundsätzen untreu geworden; ich war mittlerweile genauso engagé wie Pyle, und es schien mir, daß nie wieder eine Entscheidung einfach sein würde. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, daß es fast ein Viertel vor zehn war. Vielleicht war Pyle doch noch aufgehalten worden; vielleicht hatte dieser »Jemand«, an den er glaubte, zu seinen Gunsten eingegriffen, und er saß nun in seinem Büro in der Gesandtschaft und plagte sich verdrossen mit der Dechiffrierung eines Telegramms. Und bald würde er die Treppe zu meiner Wohnung in der Rue Catinat hinaufgestapft kommen. Ich dachte: Wenn er das tut, werde ich ihm alles sagen.
Plötzlich erhob sich Granger von seinem Tisch und kam auf mich
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