Der stille Herr Genardy
Zeitungsberichten war von einem kaltblütigen und brutalen Mord die Rede gewesen, aber so mochte er das nicht sehen, und die Presse liebte es ja, mit derartigen Ausdrücken zu schockieren –, ging es langsam wieder ein wenig bergauf mit ihm. Er fand Arbeit in einer Lagerhalle, eine schmutzige Arbeit, und er haßte Schmutz. Die Arbeit wurde auch nicht sonderlich gut bezahlt, doch den Lohn brauchte er dringend. Er sparte ein paar Monate lang eisern jeden Pfennig, den er nicht unbedingt für seinen kargen Lebensunterhalt brauchte. Dann fand er die Wohnung über der Tierhandlung, die er spärlich und preiswert einrichtete. Die Umgebung war nicht eben sauber, aber ruhig. Eine stille Seitenstraße, nur wenige Nachbarn. Außer ihm wohnten noch drei weitere Mietparteien im Haus. Ganz oben in einer kleinen Mansarde, die vom übrigen Dachboden abgetrennt war, ein junger Mann, der von sich behauptete, er sei Student, obwohl er aus diesem Alter bereits heraus war. Spätabends hörte er oft laute Musik, und er ließ ganze Horden junger Mädchen bei sich übernachten. Manche davon ließ er tagelang bei sich wohnen, und einige sahen aus, als gehörten sie noch auf die Schulbank. Im Haus wurde gemunkelt, daß sich hin und wieder die Polizei für den jungen Mann interessiere. Es waren wohl einmal ein paar Uniformierte im Treppenhaus gesehen worden, die sogar einen Hund bei sich gehabt haben sollten, wahrscheinlich nur Kunden der Tierhandlung. Um solch ein Gerede kümmerte er sich nie. Er selbst kam mit dem jungen Mann gut aus. Im zweiten Stock wohnte neben dem Hausbesitzer, der auch die Tierhandlung betrieb, ein älteres Ehepaar, das sich häufig über den jungen Mann beschwerte, sich ansonsten jedoch um gar nichts kümmerte, nicht einmal grüßte, wenn man sich im Hausflur oder auf der Treppe begegnete. Im ersten Stock, gleich neben seiner Wohnung, lebte eine alleinstehende Frau, die etwa in seinem Alter sein mochte. Neben dem penetranten Fischfuttergeruch im Treppenhaus war sie ein weiterer Grund, dem Haus bei nächstbester Gelegenheit den Rücken zu kehren. Er mochte Frauen nicht, hatte in seiner kurzen Ehe genügend trübe Erfahrungen sammeln müssen. Und seine Nachbarin war sehr aufdringlich. Sooft sich ihr die Gelegenheit bot, ließ sie durchblicken, daß sie einer näheren Bekanntschaft nicht abgeneigt war. Anfangs lud sie ihn ein paarmal für den Sonntagnachmittag zum Kaffee ein. Er kam den Einladungen nach, erzählte jedoch gleich beim ersten Besuch, daß er erst kürzlich seine Frau verloren und ihren Tod noch nicht überwunden habe. Er hoffte, sie sich damit vom Leib zu halten. Als das nicht half, erzählte er, daß er seit dem Tod seiner Frau gewisse Medikamente einnehmen müsse, um mit der Trauer leben zu können. Und daß er aufgrund dieser Medikamente zwar einen ruhigen Schlaf finde, sich auch tagsüber gut auf seine Arbeit konzentrieren, wegen der Nebenwirkungen jedoch nicht mehr daran denken könne, noch einmal eine Beziehung zu einer Frau aufzunehmen. Das reichte dann, sie ein wenig auf Distanz zu halten. Ganz locker ließ sie nicht, sie hoffte vermutlich darauf, daß er seine Medikamente irgendwann absetzte. Er lebte sparsam, konnte sich bald wieder einen Wagen leisten, nur ein älteres Modell, für seine Bedürfnisse jedoch völlig ausreichend. Dann nahm er die Fahrten wieder auf. Einmal im Monat trug er einen kleinen Koffer aus der Wohnung, manchmal auch zusätzlich ein hübsch eingewickeltes Päckchen unter dem Arm. Und wenn er im Hausflur zufällig den jungen Mann aus dem Dachgesch oß, den Hausbesitzer oder die alleinstehende Nachbarin traf, erzählte er wie früher den Nachbarn in dem anderen Haus, daß er jetzt auf Besuch zu seiner Tochter fahre, zu Schwiegersohn und den beiden Enkelkindern, daß er sich schon sehr auf die Zeit freue, die er mit den Kindern verbringen konnte. Leider immer nur so kurz. Das entsprach sogar den Tatsachen. Für die Momente, wo es ihn in seiner Wohnung überkam, hielt er einen Packen Fotografien bereit. Einige davon hatte er kaufen müssen, und billig waren sie wahrhaftig nicht gewesen. Die meisten hatte er deshalb selbst aufgenommen. Wenn er sie nur anschaute, konnte er sich damit in eine angenehme Stimmung versetzen. Das hielt ihn davon ab, ein unnötiges Risiko einzugehen. Und das Mädchen, das er im Dezember vor dem Schaufenster der Tierhandlung stehen sah, wäre ein großes Risiko gewesen. Es war entschieden zu alt, nicht für ihn, nur für seine Sicherheit. Aber das Kind
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