Der stille Herr Genardy
dem ich lernte, war noch ein älteres Lehrmädchen, Hedwig hieß sie. Sie versuchte immerzu, meine Freundin zu werden. Sie gab sich wirklich große Mühe, nur hatte ich damals entsetzliche Angst, einen Menschen gern zu haben. Wenn ich jemanden wirklich gern hatte, dann kam unweigerlich der Braune und schlug die Uhr kaputt. Bei Hedwig habe ich mir oft gewünscht, sie zu hassen, weil sie so nett war und weil ich nicht wollte, daß ihr etwas passierte. Ich erzählte ihr einmal von meinem Traum und all den Toten. Ich dachte, dann läßt sie mich vielleicht in Ruhe. Aber Hedwig lachte nur und meinte:
»Du kannst mir ja Bescheid sagen, wenn der Braune das nächste Mal kommt. Wenn er die Uhr auf die Straße legt, lasse ich mich für eine Woche krank schreiben. Und wenn er sie in ein Schlafzimmer trägt, schlafe ich halt ein paar Nächte lang im Keller. Auf Baugerüste steige ich nie.« Geglaubt hat sie mir nicht. Und nachdem sie wußte, warum ich ihr gegenüber so zurückhaltend war – komisch, sagte Hedwig dazu –, gab sie sich noch mehr Mühe. Ich habe ihr leid getan, das konnte ich deutlich spüren.
»Das kommt alles nur davon«, sagte sie einmal ,»weil du immer zu Hause hockst. Da würde ich auch verrückt werden. Du mußt raus, Sigrid, du mußt unter Leute, dich amüsieren, das lenkt ab. Du brauchst einfach einen Freund, der bringt dich schon auf andere Gedanken.« Eines Tages drängte Hedwig darauf, daß ich sonntags mal mit ihr ausgehen sollte. Sie hatte bereits einen Freund. Ich kannte ihn, weil er sie oft abends mit seinem Wagen vom Geschäft abholte. Sie würden mich gerne einmal mitnehmen, sagte Hedwig. Und es würde doch höchste Zeit, daß ich mal was anderes sähe als immer nur das muffelige Gesicht meiner Mutter, meine grinsende kleine Schwester und die Kundschaft im Laden. Zuerst wollte ich nicht, da hoffte ich sogar, meine Mutter würde es mir verbieten. Aber die hatte nichts dagegen, und dann fuhr ich eben sonntags nach Horrem ins Kino, zur Nachmittagsvorstellung. Um neun sollte ich wieder zu Hause sein. Ich fuhr mit dem Bus, rechnete fest damit, daß Hedwig mich am Bahnhof abholte, so hatten wir es verabredet. Am Bahnhof war sie nicht, doch das Kino war gleich gegenüber. Und da wartete ich dann. Hedwig und ihr Freund kamen nicht. Am nächsten Tag erzählte sie mir, sie hätten sich gestritten. Aber das war am nächsten Tag, und zuerst glaubte ich natürlich, ihr wäre etwas zugestoßen. Ihr Freund fuhr ganz schön wild, das hatte sie mir so oft erzählt. Im Geist sah ich sie auf der Straße liegen, aus dem Wagen geschleudert, zugedeckt, tot. Ich konnte mich nicht erinnern, daß ich drei Tage vorher geträumt hatte. Vielleicht hatte ich einmal zu fest geschlafen. Wenn ich von einem Traum nicht aufwachte, dachte ich morgens immer, es wäre keiner da gewesen. Doch ich hatte gelesen, daß man jede Nacht träumt. Ich stand da vor dem Kino und hätte am liebsten geheult. Zur Kasse ging ich gar nicht erst. Ich ging nur an den Schaukästen vorbei, sah mir die Bilder an, obwohl ich kaum eins davon richtig sah. Und dann legte mir plötzlich einer die Hand auf die Schulter. Ich erschrak fürchterlich, drehte mich um und sah zuerst nur etwas Braunes. Es war wie ein Alptraum am hellen Tag. Ich wollte schreien und bekam keinen Ton heraus. Jetzt kommt er schon persönlich, dachte ich. Jetzt sagt er mir ins Gesicht, wer diesmal dran glauben mußte. Und dann hörte ich die Stimme, ganz ruhig und bedächtig.
»Na, was ist denn los mit dir? Wollen sie dir keine Karte verkaufen? Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen. Ich kenne den Film. Der ist nichts für kleine Mädchen.« Es war nicht der Braune persönlich, es war nur Franz. Er trug einen braunen Anzug und ein weißes Hemd dazu mit Krawatte.
»Habe ich dich erschreckt?« fragte er und entschuldigte sich gleich.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht.« Dann gab er mir die Hand und stellte sich ganz förmlich vor.
»Franz Pelzer.« Er war zwölf Jahre älter als ich und einen Kopf größer. Er war genauso, wie ich damals einen Menschen brauchte, ein bißchen Vater und ein bißchen Freund. Er war ruhig, vernünftig, richtig erwachsen. Anfangs habe ich geglaubt, der Himmel hat ihn mir geschickt, mein Schutzengel vielleicht, mein Vater oder mein Großvater. Irgendeiner da oben, der es gut mit mir meinte. Der nicht wollte, daß ich noch länger allein war.Nachdem der Mann sich vor zweieinhalb Jahren von dem kleinen Mädchen getrennt hatte – in den
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