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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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In Augenblicken wie diesen kam ihm das Leben voll verborgener Güte und Schönheit vor. Als er sich hinter Golobitsch auf das Motorrad setzte, hatte er für einen winzigen Moment die Sorge, sie könnten während der Fahrt stürzen. Sie bogen von der Straße ab und holperten an einem aufgelassenen Bauernhaus vorbei, dessen Verputz abgefallen war. Fensterläden hingen schief in den Angeln, die Ziegel waren braunrot »wie der Tropfen unter dem Mikroskop«, fiel es Ascher ein. Die abgebrochenen Balken der Dachsparren standen in die Luft. An großen Flächen fehlten die Ziegel. »Gestern haben sie in der Nähe von Leibnitz einen tollwütigen Iltis geschossen«, schrie Golobitsch. »Bald werden wir die Tollwut haben.«
    Der Hohlweg, den sie hinunterfuhren, war voller Äpfel. Sie bogen durch ein Gatter in einen Hof ein und hielten an. Der Hof bestand aus einem flachen Holzhaus mit Ziegeldach, an der braunen Tür stand – vom letzten Besuch der »Heiligen Drei Könige« – in Kreideschrift: K + M + B 78. Noch während Ascher das feststellte, kam er sich dadurch selbst in Schutz genommen vor. Vor dem Haus war Gerümpel an die Wand gelehnt: eine verfallene Kommode, Töpfe, ein Stuhl ohne Lehne, die alle im Verwitterungsprozeß dieselbe Farbe wie das Haus angenommen hatten. Im Weinlaub, das die vordere Hälfte des Hauses überwucherte, hingen blaue Trauben. Golobitsch stellte das Motorrad ab, während Ascher die Trauben kostete. Das Fleisch schmeckte kräftigsüß, jedoch war die Haut so zäh, daß er sie ausspuckte. Im Hof lag ein Haufen Kürbisse. Die zahnlose Bäuerin, die schlank und groß war und über dem vollen grauen Haar ein gemustertes Kopftuch trug, richtete sich auf und sah ihn an. Golobitsch erklärte ihr, wer Ascher sei, daraufhin wollte sie ins Haus verschwinden, um, wie sie sagte, sich umzuziehen. Hinter dem Kürbishaufen bemerkte er einen hölzernen Schweinestall mit Klapptüren, die man öffnen mußte, um die Schweine zu füttern. Auf dem Hang eines Hügels stand das kleine Gebäude mit der Mostpresse und dem Keller, auf der anderen Seite war eine Tenne mit abgestellten Fuhrwerken, Möbeln, Matratzen, Werkzeugen und Arbeitsgeräten. Golobitsch sagte, daß sie gleich in den Graben gehen würden, und daher sei es nicht notwendig, daß sie sich umzöge. Hühner gackerten auf dem Hof. Im Haus bellte ein Hund. Die Frau gab Ascher ihre kalte Hand. Als sie sprach, konnte er kaum etwas verstehen. Offensichtlich wollte die Frau mit ihm scherzen, denn sie lachte und riß dabei den Mund auf, daß er aussah wie ein schwarzes Loch. Vor dem Haus lag ein toter Maulwurf mit rosa Pfoten. Die Frau hob ihn mit einem Blatt auf und warf ihn auf den Misthaufen. Dann schaute Ascher ihr zu, wie sie mit dem Hackmesser einen Kürbis zwischen ihren nackten Füßen aufschlug und mit den Händen, während sie auf einem Faß sitzend den halben Kürbis zwischen ihren Knien hielt, die Kerne herausgriff und in einen grünen Metalltopf warf. Die Kerne legte sie auf ein Packpapier unter dem Hausdach, wo sie an der Sonne trockneten. Wenn sie trocken waren, wurden sie zu Öl verarbeitet. Die ausgehöhlten Kürbisschalen zerhackte die Frau und warf sie den Schweinen vor, darum ließ sie sich auch mit dem Kürbisschälen Zeit: Sie arbeitete immer nur so viel weg, wie die Schweine von den Schalen fressen konnten. Golobitsch sagte ihm im Graben, daß es viele Bauern so machten, andere wiederum ließen die Schalen als Dünger auf dem Feld. Ascher fiel ein, daß er hundert Jahre zurück schaute. Noch immer stand er da, noch immer schälte die Frau Kürbisse aus.
    Er kam sich vor wie eine Versteinerung, ein fossiliertes Schneckenhaus. Jetzt hörte er wieder den Hund im Haus bellen. Er sagte sich die Erdzeitalter in Gedanken vor. Welch ungeheuren Ballast er in seinem Kopf angehäuft hatte. Und doch war es ihm angenehm, seine Gehirnbilder zu betrachten, zu verspüren, wie ein Wort, ein Gedanke wie eine Schrift in der Luft auftauchten, wie sich Erinnerungen gleich Eisenfeilspänen unter der Einwirkung einer magnetischen Kraft ordneten. Golobitsch hatte sich Werkzeuge ausgeliehen und stieg nun mit Ascher zum Teich hinunter. Zuerst mähte er mit einer Sense das hohe Gras rund um den Abfluß, weil er dort – am nächsten Tag, wenn der Teich endlich leer sein würde – die Fische hinlegen wollte. Das Gras war silbrig und golden vertrocknet und hoch, da es den ganzen Sommer über nicht gemäht worden war. Rund um den Teich wuchsen grüne Wasserpflanzen, das

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